Vier Fragen an Heike Kautz

dv aktuell: Was hat Sie bewogen, sich mit dem Thema des gesellschaftlichen Umgangs mit assistiertem Suizid im Kontext betagter und hochbetagter (pflegebedürftiger) Menschen in Ihrer Masterarbeit zu befassen?

Heike Kautz: Die Masterarbeit entstand im Sommersemester 2022. Ursprünglich wollte ich eine Diskursanalyse zum Thema: Warum Palliative Care bei betagten und hochbetagten Menschen nicht in der Gesellschaft umgesetzt wird schreiben. Bei der Recherche und den Schlüsselwörtern Sterben im Alter, Autonomie und Selbstbestimmung ergaben sich Parallelen bzw. Berührungspunkte im Kontext Palliative Care und Suizidassistenz. In den Vordergrund drängte sich hochsignifikant das Thema Beihilfe zum Suizid bzw. assistierter Suizid. So vollzog ich einen Themenwechsel. Meine berufliche Leidenschaft gilt den Betagten und Hochbetagten, und es ist mein Anspruch, durch Haltung, Respekt und ethische Reflexion zu dieser vulnerablen Gruppe eine (professionelle) Beziehung zu gestalten. Mein Erkenntnisinteresse lag deshalb dahingehend zu erforschen, wie die Gesellschaft mit dem Thema assistierter Suizid im Kontext alter Menschen nach dem Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 26.02.2020 umgeht und warum. Das BVerfG erklärte den § 217 (StGB) – Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig und nichtig.

dv aktuell: Welche Bedeutung hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 217 (StGB) vom 26.02.2020 Ihrer Ansicht nach für ältere pflegebedürftige Menschen?

Heike Kautz: Ältere pflegebedürftige Menschen sind eine vulnerable Gruppe, d.h. sie sind sehr verletzlich und „angreifbar“. Physische, psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse und Bedarfe sind häufig ineinander verflochten bzw. die psychosoziale Komponente sehr präsent. Diese sollten durch ein Gegenüber sowie in einer vertrauensvollen Beziehung erkannt und (weitmöglichst) kompensiert werden, so dass die Menschen ihr SEIN als wertvoll erleben. Folglich ist eine sozial-ethische Reflexion gegenüber dieser Personengruppe konstitutiv. Diese Haltung kann auch als solidarische hospizlich-palliative betitelt werden. In der Gesellschaft dominiert leider keine Solidarität mit alten Menschen. Eine Kernaussage meiner Forschungsarbeit lautet, dass sich durch die neoliberale, individualisierte Gesellschaft betagte Menschen als Last fühlen und nicht mehr leben wollen. Die Gefahr, dass sich dadurch die Älteren unter Druck gesetzt fühlen, könnte dazu führen, dass sich aus einer verzweifelten Lage ein Todeswunsch entwickelt und u.U. ein manifestes Verlangen nach einem assistierten Suizid geäußert wird.
Seit dem Urteil sind die Zahl der Mitglieder in Sterbehilfevereinen sowie die vollzogenen assistierten Suizide über diese drastisch gestiegen.

dv aktuell: Sie haben eine Analyse der gesellschaftlichen Diskurse zum Thema assistierter Suizid durchgeführt. Spiegeln diese Diskurse Ihrer Einschätzung nach den Sichtweisen und das Alltagsverständnis der Bürgerinnen und Bürger zu dem Thema wider, oder gibt es hier Differenzen?

Heike Kautz: Die Analyse hat gezeigt, dass in der Gesellschaft Einzelpersonen als auch klassische Professionen (Medizin, Recht, Theologie) eine ambivalente Position einnehmen. Es gibt immer ein Für und Wider, außer bei den Sterbehilfevereinen. Debatten werden sehr emotional und u.a. polemisch geführt. Das Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Reiner Keller zeigt eindeutig, dass bei allen Personen oder Gruppen Autonomie und Selbstbestimmung radikal für sich selbst in Anspruch genommen werden. So beruht folglich der gesellschaftliche Umgang mit dem assistierten Suizid im Kontext älterer Menschen auf einer Verschiebung der ethisch moralischen Grundfeste hin zur Liberalisierung bzw. Neoliberalisierung. Diese geht entsprechend mit einer Individualisierung einher, was zu einem Rückgang solidarischer Gemeinschaft führt.

Sicherlich gibt es Limitierungen aufgrund des Umfangs einer Masterarbeit, und es wurden die „Regenbogenpresse“ oder kommunale Zeitungen nicht mit einbezogen, sondern nur „seriöse“ Zeitungen, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind.

dv aktuell: Vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse: Was wünschen Sie sich für die Versorgung von älteren pflegebedürftigen Menschen? An wen richten sich diese Wünsche?

Aufgrund meiner jahrzehntelangen Berufspraxis gehören für mich die Versorgung und Begleitung betagter und hochbetagter pflegebedürftiger Menschen zu den komplexesten und spezialisiertesten Pflegesettings im Gesundheitswesen. Bereiche der Kuration, Rehabilitation, Palliation und die Mobilisierung bzw. Aktivierung psychosozialer sowie spiritueller Ressourcen werden vereint. Vernetzung und Haltung verlangen hochqualifiziertes und akademisiertes Personal, welches den Facettenreichtum im Pflegesetting durch fachliche, kommunikative, psychosoziale und ethisch-moralische Kompetenzen verantworten und steuern kann. Die Ergebnisse für die Profession Pflege spiegeln dieses und zeigen auf, dass das Thema Suizidprävention im Alter hochvirulent ist.

Es gibt für die Versorgung von älteren pflegebedürftigen Menschen Wünsche an die Mikro-, Meso- sowie Makroebene, um die Versorgungslage zu verbessern. Dies dient gleichzeitig der Suizidprävention. Auf den drei genannten Ebenen müssen zwingend nachfolgende Vorgaben implementiert werden:

1.Mikroebene – Pflege/Pflegewissenschaft

  • Auseinandersetzung mit der Thematik (fachlich, ethisch, forschend)
  • Konsequentes Einfordern und Bereitschaft von Fachqualifikationen
  • Akademisierung
  • Anwendung von Vorgaben, Leitlinien, Handlungsempfehlungen
  • Haltung (entwickeln), Care-Ethik/Ethische Prinzipien nach Beauchamp & Childress und damit den Internationalen Ethikkodex für Pflegende (ICN, 2021) umsetzen
  • Umsetzung von Gesetzlichkeiten: individuelle Pflegeplanung/Pflegeprozess als Kerngeschärft der Pflege (seit dem 01.01.2020 gesetzlich als Vorbehaltsaufgaben im § 4 des Pflegeberufegesetzes geregelt) (BMG, 2020)
  • Zur Objektivierung subjektiver Äußerungen (z.B. „keinen Sinn mehr“, „nicht zur Last fallen“, etc.) Anwendung von Pflegediagnosen z.B. nach NANDA (North American Nursing Diagnosis Association) (DPO; 2023)
  • Differenzierung von Begrifflichkeiten mit handlungspraktischen Konsequenzen (Todeswunsch vs. Wunsch nach assistiertem Suizid; Suizid)
  • In Krisenintervention geschultes und gesprächsbereites Personal sowie vernetzte Ansprechpartner/innen


2.Mesoebene – institutionell

  • Träger bietet Supervisionsangebote für Pflegende und Mitarbeitende der Sozialen Arbeit und Betreuung an
  • Möglichkeit der kollegialen Beratung
  • Vernetzung (hospizliche und palliative Versorgung, Gerontopsychiatrische Notfallambulanz, Krisenintervention/Notfallseelsorge, Hausärzt/innen, Psycholog/innen etc.)
  • Konzeptionelle Verankerung (hospizlich-palliatives Konzept, Konzept zur Suizidprävention
  • „Haltungskonzepte“) in den entsprechenden Einrichtungen (Krankenhaus/Geriatrie, Pflegeeinrichtungen, Wohngemeinschaften, ambulante Pflege, Rehabilitation, Eingliederungshilfe, Psychiatrie etc.)
  • Expert/innenstandard zur hospizlich-palliativen Begleitung von multimorbiden Betagten und Hochbetagten entwickeln und umsetzen
  • Fort- und Weiterbildungen für das gesamte Personal anbieten und beim Personal einfordern
  • Organisationsentwicklung


  • 3.Makroebene – politische Ebene

    • Akademisierung der Pflege gesetzlich regeln
    • Professionalisierung der Pflege unterstützen und vorantreiben (u.a. finanziell)
    • Verkammerung der Pflege unterstützen, um die Qualität der Pflege mit einer Stimme zu sichern und zu vertreten
    • Reformierung des SGB XI u.a. mit finanzieller Förderung von hospizlich-palliativen sowie suizidpräventiven Strukturen (personell, finanziell etc.)
    • Enttabuisierung des Suizids (Förderung von Öffentlichkeitsarbeit, Aufklärung, Kampagnen etc.)
    • Förderung der Suizidforschung; insbesondere des assistierten Suizids (wird seit dem 26.02.2020 verstärkt in Pflegeeinrichtungen nachgefragt)
    • Suizidpräventionsgesetz
    • Curriculare Fixierung von Palliative Care sowie zur Suizidprävention in der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie im Studium (Pflege, Medizin, Soziale Arbeit, Therapeut/innen [Physio-, Ergotherapie, Logopädie, etc."> Seelsorge, Psychologie etc.)
    • Einbezug von bzw. Vernetzung mit großen Dachorganisationen:
      BVG [Bundesverband der Geriatrie">, DGG [Deutsche Gesellschaft für Geriatrie">, DGGG [Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie">, DGPPN [Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde">, BAGSO [Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen">, BZgA [Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung">, FGPG [Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie">, DGP [Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin">, DHPV [Deutscher Hospiz- und Palliativverband">, Letzte Hilfe/Last Aid, DGP [Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft">, DV [Deutscher Verein">, DGS/NaSPro [Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention/Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland">, DPO [Dachverband der Pflegeorganisationen/RLP">, Pflegekammern, Deutscher Pflegerat
    • Dasselbe gilt für therapeutische Berufe sowie für Berufsgruppen der Sozialen Arbeit
    • Einbezug des deutschsprachigen Europas (Erfahrungen, Erkenntnisse, Intervention etc.)
    • Leitlinien für mediale Diskurse
    • Social Media (Aufklärung, Hotlines etc.)
    • Unterstützung (psychosozial, finanziell, beratend) pflegender Angehöriger/Zugehöriger


    Das politische Ziel muss eine Kehrtwende der marktorientierten Gesundheits- und Sozialpolitik sein. Eine Vorbildfunktion Deutschlands, auch außerhalb der Grenzen, geprägt von Solidarität und einer sozial-ethisch und moralisch reflektierten Gesellschaft, ist wünschenswert.

    dv aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.

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