FF 4.6 Digitalisierung und Online-Beratung im Jobcenter – Was wurde bisher erreicht, welche Potenziale gibt es?

Zusammenfassung

Das im August 2017 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz – OZG) verpflichtet die Träger der Grundsicherung, bis Ende 2022 die Leistungen des SGB II auch digital anzubieten. Die technische Lösung dafür sind Portale oder Plattformen im Internet. Die Bundesagentur für Arbeit hat für die gemeinsamen Einrichtungen die Plattform "Jobcenter.digital“ entwickelt, die kommunalen Jobcenter entwickeln ihre eigenen Web-Portale. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 haben Ad-hoc-Umsetzungen der geplanten Digitalisierung veranlasst, sind jedoch kein Treiber der Entwicklung und Implementation der Plattform oder Portale.
Wie bei anderen Online-Angeboten auch, müssen Leistungsberechtigte des SGB II ein Nutzerkonto einrichten und sich auf diesem Konto anmelden, um die Leistungen des Jobcenters online in Anspruch nehmen zu können. Die Einrichtung des Nutzerkontos erfordert auf der Plattform Jobcenter.digital eine besondere Identifizierung, damit das Konto aktiviert werden kann. Das ist für einige Leistungsberechtigte im SGB II ein Hindernis.
Folgende Prozeduren und Produkte sollen im SGB II online zugänglich gemacht werden: der Hauptantrag, der Weiterbewilligungsantrag, die Terminvergabe, der Widerspruch. Außerdem soll es einen elektronischen Postfachservice geben, und es sollen ausgewählte Eingliederungsleistungen online zugänglich sein. Das ist bis Mai 2022 bei Jobcenter.digital noch nicht vollständig erreicht (der Hauptantrag ist an ausgewählten gemeinsamen Einrichtungen in der Erprobung). Einige kommunale Jobcenter haben die Kernleistungen vollständig implementiert.
Die Online-Terminvergabe ist unterschiedlich differenziert. Bei einigen Portalen können die Leistungsberechtigten ihre/n Sachbearbeiter/in oder persönliche/n Ansprechpartner/in auswählen, bei anderen ist das nicht möglich. Der Widerspruch muss mit einer elektronischen Identität bestätigt werden. Auch diese ist für Leistungsberechtigte ein Hindernis, den Online-Zugang zu nutzen. In der Praxis kann das dazu führen, dass ein/e Leistungsberechtigte/r eine Prozedur online bearbeitet hat und am Ende feststellt, dass diese nicht mit einem Produkt abgeschlossen werden kann und die gesamte Prozedur hinfällig ist. Strittig ist, in welchem Maße die online erfassten Daten automatisiert in die internen Fachverfahren und die eAkte übertragen werden können; in der optimistischen Perspektive wird das vollständig durch eine KI möglich werden.
Die Erprobung und Einführung von Video-Kommunikation ist durch die Aussetzung der Präsenzberatung aufgrund der Eindämmungsverordnungen ausgelöst oder zumindest stark befördert worden. Die Bundesagentur für Arbeit hat dazu ein umfassendes Projekt aufgelegt und durchgeführt. Im Forum 4.6 wurden die Ergebnisse der Evaluation, Einschätzungen der Bundesagentur für Arbeit und systematische Überlegungen zur Beratung per Video vorgestellt.
Die Evaluation der Erprobung und Einführung hat ergeben, dass 96 % der Befragten eine Beratung per Video weiterempfehlen würden, 47 % würden das nächste Beratungsgespräch per Video führen wollen. Diese erhebliche Differenz bedarf einer Erklärung, um die Aussagekraft der Erhebung einschätzen zu können, und an dieser Befragung haben Leistungsberechtigte aus dem SGB II und dem SGB III teilgenommen. Die Zustimmungsquoten sind also nur dann für die Leistungsberechtigten des SGB II gültig, wenn angenommen wird, dass die Merkmale dieser Personen (bezüglich der Beratung per Video) mit denen der Leistungsberechtigten im SGB III übereinstimmen. Das ist eine unrealistische Annahme und eher unwahrscheinlich, so dass aufgrund dieser Befragung keine Aussage darüber gemacht werden kann, in welchem Maße Leistungsberechtige aus dem SGB II Beratung per Video positiv bewerten.
Die Bundesagentur für Arbeit schätzt ein, dass 10 bis 25 % der Beratungsgespräche im SGB II "bedarfsgerecht“ per Video stattfinden können. Dafür sprechen die digitale technische Ausstattung in der deutschen Bevölkerung und offensichtliche Vorteile der Beratung per Video. Das sind: die ortsunabhängige Erreichbarkeit, die Vermeidung von Wegezeiten und die Gleichberechtigung im räumlichen Setting.
Auch hier ist die Statistik nicht aussagefähig. Es ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Fehlschluss, von der Gesamtbevölkerung auf die Leistungsberechtigten im SGB II zu schließen. Gerade bei der technischen Ausstattung ist angezeigt, eigens zu erheben, wie diese unter den Leistungsberechtigten im SGB II ausfällt. Ortsunabhängige Erreichbarkeit ist für Leistungsberechtigte im SGB II ein bloß fiktiver Vorteil, weit entfernt von ihrer Lebenspraxis. Die beiden anderen genannten Vorteile gelten für die Leistungsberechtigten auch, wenn die Fachkraft des Jobcenters vor Ort erreichbar ist (Präsenz im Sozialraum) oder bei einem Hausbesuch. Für die Mitarbeiter/innen der Jobcenter erhöht sich der Aufwand einer Beratung (teilweise erheblich), und sie müssen in einer "fremden“ Umgebung interaktiv tätig sein. Geschäftsführer kommunaler Jobcenter sagen: Das ist die Realität im SGB II, die Fachkräfte des Jobcenters müssen mit den Leistungsberechtigten persönlich und interaktiv arbeiten. Beratung per Video kann nur in Ausnahmefällen funktionieren

Mitwirkende

Moderation

  • Karl-Josef Cranen, Amtsleiter, Job-Com - Kommunales Jobcenter Kreises Düren


Vortrag/Diskussion

  • Tim Bendixen, Geschäftsführer, gfa | public GmbH, Berlin
  • Boris Berner, Vorstand ProArbeit – Jobcenter Landkreis Offenbach
  • Manuela Mommert, Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg
  • Prof. Dr. Matthias Rübner, Professor für Integrations- und Fallmanagement, Hochschule der Bundesagentur für Arbeit, Mannheim
  • Andreas Staible, Leitungsfunktion Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg

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