Macht Personalnot erfinderisch? − Perspektiven und Lösungsansätze zum Fachkräftemangel

Dokumentation der Fachtagung vom 27. Juni 2024

Kinder- und Jugendhilfe, Pflege und Eingliederungshilfe im Austausch

Der Personalmangel im gesamten sozialen Sektor hat sich zur Krise ausgewachsen. Einrichtungen der Behindertenhilfe und Pflegeeinrichtungen müssen ganze Stationen oder Dienste schließen. Kindertageseinrichtungen sehen sich gezwungen, Betreuungszeiten einzuschränken oder Gruppen zu vergrößern, Unterbringungsplätze für gefährdete Kinder- und Jugendliche sind rar, und auch Fachkräfte im öffentlichen Dienst wie z.B. im Allgemeinen Sozialen Dienst der Jugendämter lassen sich zunehmend schwerer finden.

Der Aufgabe, Strategien im Umgang mit dem Fachkräftemangel sektorübergreifend für das gesamte Feld sozialer Berufe in den Blick zu nehmen, stellten sich die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. im Rahmen einer gemeinsamen Fachtagung und unter Einbeziehung von Praxis und Wissenschaft am 27. Juni 2024 in Berlin.

Programm

Artikel NDV 

Für den Deutschen Verein begrüßte die Geschäftsführerin Nora Schmidt dieTeilnehmenden und dankte für die Bereitschaft zum Blick über den Tellerrand. Der Fachkräfte- und Personalmangel betreffe längst nahezu gesamte soziale Infrastruktur. Es sei daher zwingend notwendig, bereichsübergreifend zu erörtern, welche kurz-, mittel- und langfristigen Ansätze zur Bewältigung des Personalbedarfs im sozialen Sektor greifen und inwiefern die einzelnen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege und der Eingliederungshilfe voneinander lernen und sich gemeinsam für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen im sozialen Sektor stark machen können. Eine realistische Bestandsaufnahme sowie Strategien, die das gesamte Spektrum sozialer Einrichtungen und Dienste in den Blick nehmen, seien angesichts der Dramatik der Personalsituation mehr denn je gefragt.

Nora Schmidt
Nora Schmidt

Für die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte begrüßte die Projektleiterin Prof. Dr. Fuchs-Rechlin und ging zunächst auf aktuelle Entwicklungen bei der Personalsituation in der Kindertagesbetreuung ein. Trotz jahrelanger bundesweiter Zuwächse bei Ausbildung und Beschäftigung zeichne sich für die kommenden Jahre in den westlichen Bundesländern eine dramatische Fachkräftelücke ab, die selbst bei positiven Prognosen nicht durch die Zahl der Ausbildungsabgänger/innen gedeckt werden könne.

Präsentation von Prof. Dr. Kerstin Fuchs-Rechlin

Dr. Kristen Fuchs-Rechlin
Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin

Blitzlichter aus der Praxis

Das moderierte Gespräch „Blitzlichter aus der Praxis“ gewährte exemplarisch erste Einblicke in konkrete Auswirkungen der Personalengpässe sowie Strategien gegen den Fachkräftemangel:

 „Jugendhilfeträger und Jugendamt müssen in Zukunft noch enger zusammenrücken, um in Zeiten fehlender Fachkräfte überhaupt noch ein bedarfsgerechtes Angebot sicherstellen zu können. Wir bewegen uns in einer Zeit, wo wir unsere Leistungen umstrukturieren müssen, wo sich Arbeit verändert, und die Frage ist, wie nehmen wir die Leute mit. Wichtig ist neben verlässlichen Strukturen die Frage der Motivation und des Sinns, da braucht es ganz viel Kommunikation. In den letzten Jahren hatten wir so viel Krise und so viel Durchhalteparolen, daher muss man als Führungskraft auch eine Linie mitbringen und sagen können, wo geht’s hin, wie können wir aus der Krise herauskommen.“

Matthias Röder, Jugendamt Darmstadt-Dieburg

„Die Menschen, die bei uns in der Pflege arbeiten, und auch die Kunden, die bei uns versorgt werden, die brauchen von uns als Träger eine Perspektive. Und die Perspektive ist nicht, dass wir uns hinsetzen und klagen, wie schlecht die Rahmenbedingungen in der Branche sind, sondern die Perspektive muss doch sein, was können wir als Unternehmen gemeinsam mit den Mitarbeitenden und unseren Kund/innen gestalten. Ich glaube, dass wir im Rahmen der Bedingungen, die wir gesetzlich haben, noch ganz viele Gestaltungsmöglichkeiten haben, die wir nicht ausgeschöpft haben. Wenn man zum Beispiel die Mitarbeitenden fragt, fühlt Ihr Euch wertgeschätzt, wie wir es vor zwei Jahren getan haben, dann sagen die: „Geht so. Wir wollen das ehrlich gemeinte Interesse des Vorgesetzten an unserer Person und an unserer Arbeit, das ist für uns Wertschätzung.“ Also gehen wir hin zu den Mitarbeitenden, interessieren uns für ihre Arbeit und lassen die Impulse der Mitarbeitenden in unsere Unternehmensstrategie einfließen.“  

Christian Potthoff, Diakonie Michaelshofen

„Mit spannenden innovativen Konzepten gewinnen wir auch gerade jüngere Menschen. Für die Zukunft wichtig ist das Arbeiten über das Leistungsrecht hinweg. Leben mit Behinderung erbringt Leistungen aus einer Hand: Die Menschen bekommen Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflege und wir binden auch die Professionen miteinander zusammen. Ganz wichtig sind auch gerade für die jungen Leute verlässliche und verbindliche Dienstpläne. Und wir bieten Ausbildung an: die Pflegefachausbildung, die Ausbildung für Heilerziehungspflege sowie duale Studiengänge Soziale Arbeit. Für Menschen aus anderen Bundesländern bieten wir beispielsweise ein erstes Gespräch per Zoom an und, so sie als Mitarbeitende zu uns kommen, Wohnungen, die wir in Hamburg anmieten. Mit vereinten Kräften ist es uns gelungen, die Zahl der fehlenden Mitarbeiter/innen (und das sind ja nicht nur Fachkräfte) zu halbieren.“

Brigitte Buermann-Gerdes, Leben mit Behinderung Hamburg

Personalbemessung und Einsatz von Fach- und Assistenzkräften: Aktuelle Entwicklungen am Beispiel Pflege und Kindertagesbetreuung

In allen sozialen Arbeitsfeldern viel diskutiert ist die Frage nach einer korrekten, an den jeweiligen Anforderungen und Aufgaben orientierten Personalbemessung sowie nach einem angemessenen Einsatz von Fach- und Assistenzkräften. Verbunden ist diese Debatte regelmäßig mit dem Ringen um eine an fachlichen Standards, den Bedarfen der Adressat/innen sowie den Realitäten des Arbeits- und Ausbildungsmarktes orientierte Umsetzung der Fachkräftegebote der verschiedenen Sozialgesetzbücher.

In Bezug auf die stationäre Langzeitpflege ist der Bundesgesetzgeber bereits einen Schritt weiter gegangen: Für den Einsatz von Fach- und Assistenzkräften wurden bundesweit einheitliche Kriterien entwickelt und eine entsprechende gesetzliche Regelung geschaffen.

Keynote: Woher kommt und was bringt das neue Personalbemessungsinstrument in der Pflege?

In einem ersten Vortrag stellte daher Prof. Dr. Heinz Rothgang Hintergründe und Umsetzungsstand des seit 2023 bundesgesetzlich neu geregelten Personalbemessungsinstrumentes in der stationären Langzeitpflege vor. Als Leiter der sogenannten Forschungsgruppe Rothgang hat er das Personalbemessungsinstrument wesentlich mit entwickelt, und als Leiter des Modellprogramms Entwicklung und Erprobung eines Konzepts zum qualifikationsorientierten Personaleinsatz in der Stationären Langzeitpflege begleitet er die Umsetzung des Gesetzes an verschiedenen Modellstandorten. Ausgangssituation war die verbreitete Wahrnehmung personeller Unterbesetzung in der stationären Langzeitpflege bei teilweise sehr unterschiedlicher Personalausstattung. Basierend auf der systematischen Beobachtung und Beschreibung einzelner Kernprozesse wurde daher im Rahmen eines ersten Forschungsprojektes ein Algorithmus entwickelt, der in Abhängigkeit vom Pflegegrad der Bewohner den Personalbedarf einer Einrichtung an Pflegefachkräften, Pflegefachassistenten und Pflegehelfern bestimmt. Bundesweit angewandt wurde so ein durchschnittlicher Mehrbedarf an Personal in der stationären Langzeitpflege von etwa 30 % ermittelt, und zwar überwiegend im Bereich ausgebildeter Assistenzkräfte. Auf dieser Grundlage wurde die seit Juni 2023 gültige bundeseinheitlichen Regelung zur Refinanzierung von Personal in Pflegeeinrichtungen eingeführt, die es Einrichtungen stufenweise ermöglicht, Personal im Umfang des ermittelten Bedarfes zu refinanzieren. Ergebnis der Untersuchung war außerdem, dass Aufgaben überwiegend nicht kompetenzorientiert, sondern eher zufällig von Mitarbeiter/innen verschiedener Qualifikationsniveaus ausgeführt wurden. In einem weiteren bundesweiten Modellprojekt wird daher an in 10 Modellstandorten eine kompetenzorientierte und bewohnendenzentrierte Arbeitsorganisation entwickelt, eingeübt und evaluiert.

Präsentation von Prof. Dr. Heinz Rothgang

Prof. Dr. Heinz Rothgang

Keynote: Fachkräfte-Assistenzkräfte-Mix in der Kindertagesbetreuung – Welche Wege gehen die Länder?

In einem zweiten Vortrag zeigte Prof. Dr. Tina Friederich von der katholischen Stiftungshochschule München auf, welche Strategien der Personalgewinnung und -bindung frühpädagogischen Personals in den letzten Jahren in den verschiedenen Bundesländern zu beobachten waren. Derzeit ließen weder die Öffnung der Fachkräftekataloge der Länder für verschiedene Berufe und Qualifikationsstufen noch die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland noch die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten noch relevante Aufwüchse erwarten. Die zahlenmäßig relevanteste Steigerung beim Personal lasse sich derzeit bei der Einbindung fachfremden Personals für nicht erzieherische Aufgaben (insbesondere Hauswirtschaft) beobachten. Damit verbunden seien aber erhebliche Herausforderungen für eine qualifikationsangemessene Verteilung der Aufgaben und die Zusammenarbeit im Team.

Präsentation von Prof. Dr. Tina Friedrich

Prof. Dr. Tina Friedrich

Workshops Voneinander lernen – gemeinsam weiterdenken:
Die Arbeitsfelder Kinder- und Jugendhilfe, Pflege und Eingliederungshilfe im Austausch

Fishbowl-Diskussion: Strategien zum Umgang mit knappen personellen Ressourcen

In einer abschließenden Fishbowl-Diskussion wurden die wichtigsten Ergebnisse und Diskussionsstränge aus den Workshops gemeinsam erörtert und in einen größeren Rahmen gestellt.

So betonte Matthias Röder die Notwendigkeit struktureller Unterstützung bei neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern: „Wenn wir was ändern wollen, um mit weniger Personal ein funktionierendes Hilfesystem aufrecht zu erhalten, dann muss es neue, anders konfigurierte Leistungen geben, und die müssen verhandelt werden, die müssen die überhaupt mal definiert werden. Tatsächlich ist dabei die Situation der Leistungserbringer eine ganz zentrale. Ich glaube, am Ende muss dieser Transformationsprozess von beiden Seiten gut gesteuert und begleitet werden können. Und da fehlt es aus meiner Sicht ganz stark an einer strukturellen Unterstützung. Und die muss sehr konkret und sehr produktiv sein. Da wünsche ich mir, dass man da Forschungsinstitute mitbeteiligt, Rechtsinstitute mitbeteiligt, sodass wichtige Fragestellungen einfach mal geklärt sind, das muss nicht jeder für sich machen. Da könnte man zum Beispiel Mustervereinbarungen entwickeln. Und man braucht Plattformen, wo man sich austauschen kann in der Fallarbeit oder auch bei der Koordination von Leistungen über Instrumentarien, Erfahrungen, Unterstützungsmöglichkeiten usw. Weil auch eine bestimmte Geschwindigkeit braucht. Und was natürlich auch sehr hilft, ist so eine Tagung wie heute zum Beispiel, wo so viele Kompetenzen zusammenkommen.“ (Matthias Röder, Jugendamt Darmstadt-Dieburg)

Gaby Hagmanns, Direktorin der Caritas Frankfurt a. M. lenkte den Blick auf die anspruchsvolle Situation der leistungserbringenden Trägerstrukturen.  Diese müssen laut Frau Hagmanns mannigfaltige Auflagen erfüllen, für die wir Personal- und Finanzressourcen benötigt werden. Dazu gehören auch arbeitsrechtliche Verpflichtungen, die teils nicht mit den Befristungsideen der Auftraggeber in Einklang bringen lassen. Angesichts der komplexen Aufgabenstellung betonte Frau Hagmanns die Rolle des Deutschen Vereins: „Wie können wir rechtliche Möglichkeiten noch besser überhaupt ausnutzen, Mut haben, Dinge erst mal zu tun? Wie können wir auch Aufgabenkritik betreiben, Bürokratieabbau endlich verwirklichen, etc. Und außerdem stellt sich doch die Frage, was wollen wir denn sozialpolitisch? Was ist denn unser Ziel? Und wie ist unsere Idee, die Angebote weiterzuentwickeln, so dass die Menschen vielleicht weniger institutionell und mehr im Sozialraum Unterstützung erfahren? Was sind da unsere Bilder?“ „Der Deutsche Verein ist die ideale Plattform, um diese komplexen Themen miteinander intelligent zu koordinieren. Weil halt öffentliche Träger auf allen Ebenen und freigemeinnützige Träger auf allen Ebenen hier zusammenkommen, im Deutschen Verein. Und wir einfach diese verschiedenen Aspekte betrachten können.“ (Gaby Hagmanns, Caritas Frankfurt a.M.)

Lena Przybilla vom Erzbistum Berlin sprach digitale Entlastungs- und Demokratisierungspotentiale an: „Und da haben wir einmal natürlich über diesen ganzen Bereich der Entlastung gesprochen, wo wir auch Ressourcen sparen können, über künstliche Intelligenz, auch im Bereich der Dokumentation, im Bereich Sprache, Robotik, aber auch über Professionalisierung im Bereich Qualitätsmanagement oder Ticketsysteme, E-Learning, das ganze Feld. Und das dritte große Feld ist die Information und Beteiligung der Mitarbeitenden.  Und dass man auch mittels der digitaler Tools Strukturen schaffen kann, digitale Systeme, Intranet, Austauschformate, digitale Sprechstunden und so weiter, wo Menschen mit ihren Kompetenzen, mit ihren Interessen sich punktuell oder regelmäßig und weitgehend unbeeinflusst von hierarchischen Ebenen, die ja klassischerweise sonst sehr wirkmächtig sind.“  Sie zog ein optimistisches Fazit zu den auch durch den Personalmangel in Gang gesetzten Prozessen:  „Ich würde mir wünschen, dass wir über die gleichen Dinge, über die wir heute gesprochen haben, egal ob es im Bereich der differenzierten Teamprofile ist oder auch im Bereich der Digitalisierung, darüber sprechen würden, wenn wir gar keine Personalnot hätten.“ (Lena Przibylla, Zweckverband der Kitas im Erzbistum Berlin)

Der die Veranstalter bedanken sich bei allen Teilnehmenden für ihr engagiertes Mitdiskutieren und werden die Ergebnisse der Tagung in ihre weiteren Strategien und Aktivitäten zum Umgang mit dem Personalmangel in sozialen Einrichtungen und Diensten einfließen lassen.