Wohlfahrtspolitische Großorganisation in der Weimarer Republik

Mit der Ausrufung der Weimarer Republik 1918 trat der demokratische Sozialstaat an die Stelle des monarchistischen Obrigkeitsstaates. Erstmals erhielten Fürsorgeempfänger/innen, die im Kaiserreich von politischen Mitwirkungsmöglichkeiten ausgeschlossen waren, das aktive und passive Wahlrecht. Auch für den Deutschen Verein begann eine neue Phase seiner Entwicklung, die eng mit der Persönlichkeit von Wilhelm Polligkeit verbunden ist.

Wichtige Persönlichkeiten

Foto von Otto Lohse, © Klaus Niermann, HamburgOtto Lohse
* Hamburg 26.8.1865, † Hamburg 1.6.1946
1907–1917 Direktor des öffentlichen Armenwesens in Hamburg, 1921 Hamburgischer Staatsrat. Seit 1906 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1912-1931 Mitglied des DV-Vorstands, 1.3.1921–20.3.1922 Vorsitzender, seit 1931 Ehrenmitglied des DV.

Foto: Klaus Niermann, Hamburg







Foto von Marie Juchacz, © Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 1993Marie Juchacz
* Landsberg/Warthe 15.3.1879, † Düsseldorf 28.1.1956
Seit 1908 SPD-Mitglied, seit 1917 im Parteivorstand, Mitglied in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und im Reichstag (1920–1933). 1919 Gründerin und bis 1933 Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt. 1921–1931 Mitglied im DV-Vorstand. 1933 Flucht in die USA, 1949 Rückkehr nach Deutschland, Ehrenvorsitzende der AWO.

Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 1993







Foto von Wilhelm PolligkeitWilhelm Polligkeit
* Langenberg/Rheinland 14.5.1876, † Frankfurt a.M. 27.4.1960
Dr. jur. (1907), Dr. rer. pol. h.c. (1951), seit 1929 Honorarprofessor an der Universität Frankfurt a.M. Seit 1903 Privatsekretär von Wilhelm Merton und in verschiedenen Funktionen in der "Centrale für private Fürsorge" und im "Institut für Gemeinwohl" in Frankfurt a.M. tätig, 1915 Begründer der Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt. Seit 1911 im Zentralausschuss, seit 1918 im Vorstand des DV, 1920–1936 und 1946–1950 Geschäftsführer, 1922–1935 und 1946–1950 Vorsitzender des DV, 1946–1960 Mitglied im DV-Hauptausschuss. In der NS-Zeit u.a. für den Bayerischen Landesverband für Wanderdienst und das Soziographische Institut in Frankfurt a.M. aktiv, 1945/46 Leiter des Frankfurter Wohlfahrtsamtes. 1949 wesentlich an der Reaktivierung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beteiligt.

Foto von 1919 zur Neuordnung des Deutschen VereinsNeuausrichtung des Deutschen Vereins
Polligkeit hatte u.a. als Geschäftsführer der "Centrale für private Fürsorge" in Frankfurt a.M. umfassende Kenntnisse auf nahezu allen Gebieten des Fürsorgewesens erworben. Im DV, für den er seit 1911 tätig war, avancierte er nicht nur 1920 zum Geschäftsführer als Nachfolger des Beigeordneten der Stadt Höchst a.M., Hermann Hog, sondern löste auch 1922 den Hamburger Staatsrat Otto Lohse als Vereinsvorsitzenden ab. Als herausragender Theoretiker und Praktiker der sozialen Arbeit trug Polligkeit entscheidend zur Modernisierung und Professionalisierung der Vereinsarbeit bei, so dass der DV in den Kreis der bedeutendsten Organisationen der Wohlfahrtspflege in Deutschland aufrückte. Er leitete im Jahre 1919 den Umzug des Vereins von Berlin nach Frankfurt in die Stiftstraße 30 ein. Dort befanden sich bereits die "Centrale für private Fürsorge" und das von Christian Jasper Klumker geleitete Fürsorgeseminar der Universität. Gleichzeitig erfolgte die Umbenennung in "Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge". Damit dokumentierte man auch nach außen hin, dass der Verein sein Aufgabengebiet sehr viel weiter fasste als die traditionelle Armenpflege und das gesamte Spektrum der sozialen Fürsorge, einschließlich der Versorgung von Kriegsopfern und Kriegshinterbliebenen, darin einschloss.

Foto des des Nachrichtendienstes von 1922Modernisierung der Vereinsarbeit
Eine neue Satzung erweiterte den Vorstand auf 14, später auf 20 Personen, benannte den Zentralausschuss in Hauptausschuss um und legte die Zahl seiner Mitglieder auf 100 bis 150 fest. Die jährlichen Fachtagungen verloren ebenso wie die Mitgliederversammlung an Bedeutung. Stattdessen rief man Fachausschüsse ins Leben, die die Arbeit zu einzelnen Sachthemen effektivieren sollten. Die Frankfurter Geschäftsstelle wurde zur eigentlichen Machtzentrale des Vereins. Unter Polligkeits Führung leisteten etwa ein halbes Dutzend Fachreferent/innen die Zuarbeit für den Vorstand und die Fachausschüsse. 1922 richtete Polligkeit zu seiner Entlastung die Stelle eines 2. Geschäftsführers ein, die er mit der Juristin Hilde Eiserhardt besetzte. Als Kontinuitätsfigur von der Weimarer zur Bundesrepublik zählte Eiserhardt zu den wichtigsten Persönlichkeiten des DV in diesem Zeitraum. Veränderungen gab es auch im Publikationswesen: Die alte Schriftenreihe wurde durch die "Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge" und die Serie "Aufbau und Ausbau der Fürsorge" ersetzt. An die Stelle der "Zeitschrift für das Armenwesen" trat 1922 der "Nachrichtendienst" (NDV), der mit Ausnahme des Jahres 1945 bis heute ununterbrochen erschienen ist.

Ausbau politischer Einflussmöglichkeiten
Da sich in der Weimarer Republik die Fürsorgeaktivitäten von den vormals dominierenden städtischen Wohlfahrtsbehörden auf die Reichsebene verlagert hatten, versuchte Polligkeit durch Kommissionen, Denkschriften und Expertisen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung zu nehmen. Auch hatten sich Spitzen-verbände der freien Wohlfahrtspflege konstituiert, was neue Einflussmöglichkeiten eröffnete. Sozialpolitisch hoch angesehene Frauen saßen sowohl im Vorstand des DV als auch als Abgeordnete im Reichstag, so die Zentrumspolitikerinnen Agnes Neuhaus und Helene Weber sowie die Sozialdemokratin Marie Juchacz. Mitglied des DV-Hauptausschusses war darüber hinaus die DDP-Politikerin Gertrud Bäumer. Der DV verfügte also über einen "kurzen Draht" direkt ins Parlament, den er wiederholt nutzte. Politisch behielt er seine sachliche Linie und "Neutralität" bei. Er stützte sich vornehmlich auf die Parteien der Weimarer Koalition und hielt sich von den extremen Gruppierungen linker und rechter Couleur fern.

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