Wiederaufbau nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag der Deutsche Verein in Trümmern, seine Berliner Geschäftsstelle war ausgebombt, die Bibliothek verloren, das Vereinsvermögen eingefroren und die Vereinsspitze durch NS-Funktionäre diskreditiert. In dieser hoffnungslos erscheinenden Situation ergriff Wilhelm Polligkeit die Initiative für einen Neubeginn.

Wichtige Persönlichkeiten

Foto von Hans AchingerHans Achinger
* Elberfeld 5.10.1899, † Frankfurt a.M. 6.7.1981.
1924 Dr. rer. oec., anschließend in der Fürsorgeerziehung des Rheinlandes und als DV-Referent beschäftigt, 1925–1937 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge in Frankfurt/Main, Schriftleiter der Zeitschrift der Gauwirtschaftskammer des Rhein-Main-Gebietes, 1938 Habilitation und Dozent für Sozialpolitik an der Frankfurter Universität. Nach 1945 Redakteur und Dozent, 1952 außerordentlicher Professor, 1957 Ordinarius für Sozialpolitik der Universität Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der "Rothenfelser Denkschrift". In zahlreichen sozialpolitischen Gremien und Verbänden aktiv, im DV 1949–1979 Mitglied des Hauptausschusses und 1951–1975 des Vorstandes, 1962–1974 stellvertretender Vereinsvorsitzender.

Foto von Kurt Blaum, Magistrat der Stadt HanauKurt Blaum
* Straßburg 10.4.1884, † Bad Homburg 26.11.1970
1908 Straßburger Sozialreferent, 1910 Dr. rer. pol., seit 1912 Verwaltungsdirektor des Straßburger Armenamtes, Urheber des sog. "Straßburger Systems" der sozialen Fürsorge, nach Ausweisung aus dem Elsass 1919 im württembergischen Innenministerium tätig, Verfasser des Werkes "Jugendwohlfahrt", 1921–1933 Oberbürgermeister von Hanau, 1933 aus politischen Gründen aus dem Amt geschieden, danach Gutachter und Schriftsteller, 1942–1944 Leiter des Motorenforschungswerkes Oberursel, nach Kriegsende kurzzeitig Oberbürgermeister von Hanau und Frankfurt a.M., 1916–1933 und 1946–1953 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1946–1951 des DV-Vorstandes, 1949/50 DV-Geschäftsführer, 1946–1951 stellvertretender Vereinsvorsitzender.

Foto: Magistrat der Stadt Hanau

Foto von Ludwig NeundörferLudwig Neundörfer
* Mainz 13.3.1901, † Frankfurt a.M. 25.9.1975
Seit 1922 als Kulturwissenschaftler tätig, 1929 Dr. phil., 1927–1932 Leiter der Städtischen Volksschule in Offenbach, anschließend Hilfsreferent im Volksbildungsreferat des Hessischen Kulturministeriums, 1933–1939 Stadt- und Sozialplaner in Heidelberg mit soziografischen Untersuchungen betraut, seit 1940 für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung tätig, seit 1943 Direktor des "Instituts zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus Frankfurt/Main" (Soziographisches Institut). Nach Kriegsende Umorientierung der Institutsarbeit auf Wiederaufbauplanung und Flüchtlingsintegration, 1949 Professor für Soziologie in Jugendheim, 1961 Ordinarius in Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der "Rothenfelser Denkschrift", 1966 an der Sozialenquête der Bundesregierung beteiligt, im DV wichtiger Impulsgeber insbesondere zur Familienversorgung, 1960–1975 Mitglied des DV-Hauptausschusses.

Das "Soziographische Institut" als Ausgangspunkt
Polligkeit hatte seit 1943 im Soziographischen Institut in Frankfurt a.M. einen Zirkel von Fürsorgefachleuten um sich geschart, zu denen Hans Achinger, Kurt Blaum, Hans Schenk, Rudolf Prestel und Hilde Eiserhardt gehörten. Sie bildeten den personellen Kern für den Wiederaufbau des DV. Allerdings war das Soziographische Institut keine fortschrittliche, regimekritische Institution, wie von den Beteiligten rückblickend suggeriert wurde, sondern betrieb Raumforschung im Sinne der nationalsozialistischen Siedlungs- und Aggressionspolitik. Da sowohl der Institutsleiter Ludwig Neundörfer als auch Polligkeit nicht der NSDAP angehört hatten und sie den amerikanischen Besatzungsbehörden den Eindruck unpolitischer wissenschaftlicher Institutsarbeit vermitteln konnten, erhielt die Einrichtung die Genehmigung zur Fortsetzung der Arbeit. Neundörfer stellte dem DV im Soziographischen Institut Räumlichkeiten für eine provisorische Geschäftsstelle zur Verfügung. Im Herbst 1945 wurde Polligkeit zum Stadtrat und Leiter des Frankfurter Wohlfahrtsamtes ernannt. Mit dieser Stellung im Rücken beantragte Polligkeit im Frühjahr 1946 bei der US-Militärverwaltung erfolgreich die Wiederzulassung des DV für "Großhessen".


Foto des Vortrags zum Geschäftsbericht 1947, von Hilde Eiserhardt auf der Vorstandssitzung am 2.3.48 in Heidelberg.
Geschäftsbericht 1947, vorgetragen von Hilde Eiserhardt auf der Vorstandssitzung am 2.3.48 in Heidelberg.











Reorganisation nach Weimarer Vorbild
1946 wurde ein erster Fürsorgetag nach Frankfurt a.M. einberufen, auf dem Vorstand und Hauptausschuss gewählt, die demokratische Satzung der Weimarer Republik erneut beschlossen und Polligkeit zum Vereinsvorsitzenden und 1. Geschäftsführer sowie Hilde Eiserhardt zur 2. Geschäftsführerin berufen wurden. Der DV knüpfte folglich sowohl personell als auch organisatorisch nahtlos an die Zeit vor 1933 an. Rasch wurde er wieder zu einem Sammelbecken von anerkannten Persönlichkeiten aus der öffentlichen Fürsorge sowie der freien Wohlfahrtspflege. Im Vorstand saßen u.a. der Sozialdemokrat Heinrich Treibert, der zeitweilig als Präsident des Deutschen Landkreistages fungierte, der christdemokratische Flüchtlingspolitiker Peter Paul Nahm, die angesehenen Repräsentanten der evangelischen und katholischen Wohlfahrtspflege, Otto Ohl und Albert Lenné, und die CDU-Politikerin Helene Weber, eine der vier "Mütter" des Grundgesetzes. Inhaltlich nahm sich der DV aller relevanten Fürsorgethemen der Nachkriegszeit an, insbesondere der Jugendverwahrlosung und der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Sein zentrales Anliegen, das er weitgehend verwirklichen konnte, bildete allerdings die Wiederherstellung eines einheitlichen Fürsorgerechts auf der Basis der Weimarer Bestimmungen.

Wilhelm Polligkeit – die zentrale Persönlichkeit des Wiederaufbaus
Polligkeit leistete in der Nachkriegszeit überragende Aufbauarbeit für den DV und war nahezu omnipräsent. Nachdem er wiederholt um Entlastung durch einen hauptamtlichen Geschäftsführer gebeten hatte, betraute der Vorstand im November 1949 den sozialpolisch erfahrenen Kurt Blaum mit dieser Schlüsselposition. Rasch erwuchs aus der neuen Gewichtsverteilung in der DV-Leitung ein ernster Konflikt zwischen Polligkeit und Blaum, der in einer Führungskrise im DV mündete. Auf dem Fürsorgetag im Oktober 1950 drängte der Vorstand Blaum, zum Jahresende aus der Geschäftsführung auszuscheiden, und Polligkeit räumte mit sofortiger Wirkung das Amt des Vorstands. Rückblickend erwies sich so die Kontroverse als Glücksfall, denn unter dem neuen Vereinsvorsitzenden Hans Muthesius brach das "goldene Zeitalter" des DV an.

Foto von der Geschäftsstelle des Deutschen Vereins in der Savignystr. 37 in Frankfurt/Main
Dienststelle des DV 1952–1954 in der Savignystr. 37 in Frankfurt/Main

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