Impulsgeber neuzeitlicher Armenpflege

Mit den gestiegenen Anforderungen an die kommunale Sozialpolitik seit der Jahrhundertwende setzte eine verstärkte Professionalisierung und Bürokratisierung ein, die den Deutschen Verein vor neue Herausforderungen stellte. Mit Karl Flesch, dem "Vater des modernen Arbeitsrechts", und dem langjährigen Schriftführer Emil Münsterberg verfügte er über Persönlichkeiten, die praktische Erfahrungen in der kommunalen Armenpflege mit wissenschaftlicher Reflexion zu verbinden wussten. Beide trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Deutsche Verein von einem behäbigen Honoratiorenverein zu einem reformorientierten Impulsgeber des Fürsorgewesens wandelte.

Wichtige Persönlichkeiten

Foto von Karl Flesch, © Marlies Flesch-ThebesiusKarl Flesch
* Frankfurt a.M. 6.7.1853, † Frankf. a.M. 15.8.1915
Begründer des modernen Arbeitsrechts und Sozialpolitiker, entwickelte das sog. "Frankfurter System" der Armenpflege. Seit 1884 Stadtrat und Leiter des Armenwesens in Frankfurt a.M. Seit 1886 Mitglied des DV-Zentralausschusses, seit 1908 Mitglied des Preußischen Landtages.

Foto: © Marlies Flesch-Thebesius







Foto von Emil MünsterbergEmil Münsterberg
* Weimar 13.7.1855, † Berlin 25.1.1911
Dr. jur., 1889/90 Amtsrichter in Menden, anschließend Bürgermeister in Iserlohn, 1893–1895 in der Hamburger Armenpflege tätig, 1895 Leiter der Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit in Berlin, dort 1898 Stadtrat und Vorsitzender der Armendirektion. Seit 1886 im DV-Zentralausschuss und 1892–1911 Vorstandsmitglied und Schriftführer, 13.–25.1.1911 Vorsitzender des DV.





Dorothea Hirschfeld
* Berlin 26.2.1877, † Berlin 12.6.1966
Pionierin der Sozialarbeit und Mitbegründerin des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen, 1904–1912 Sekretärin in der Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit. 1912–1919 DV-Referentin und Leiterin der DV-Geschäftsstelle, 1919–1921 Mitglied im DV-Vorstand und bis 1933 im Hauptausschuss. 1919–1933 Ministerialrätin im Reichsarbeitsministerium, seit 1918 SPD-Mitglied, 1919 Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt, 1942 Deportation in das KZ Theresien-stadt, 1945–1948 Referentin in der Berliner Hauptverwaltung für Gesundheits-wesen der sowjetischen Besatzung






Foto von Christian Jasper KlumkerChristian Jasper Klumker
* Insel Juist 22.12.1868, † Hedemünden 19.7.1942
Dr. phil., seit 1897 im Institut für Gemeinwohl in Frankfurt a.M. tätig, 1899–1911 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge in Frankfurt a.M., 1906 Gründer und Vorsitzender des Archivs Deutscher Berufsvormünder, Mitbegründer des Vereins "Kinderschutz" und des ersten Jugendgerichts in Frankfurt a.M., seit 1914 außerordentlicher Professor für Armenpflege und soziale Fürsorge, schuf 1918 mit dem Werk "Fürsorgewesen" eine wissenschaftliche Grundlage für die moderne Sozialarbeit. Seit 1920 ordentlicher Professor an der Universität Frankfurt a.M., Vorkämpfer der Jugendamtsbewegung und 1921/22 Sachverständiger in der Kommission zur Vorbereitung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes. 1902–1933 Mitglied des DV-Zentral- bzw. Hauptausschusses, 1918–1933 Mitglied im Vorstand des DV. Wandte sich 1933 offen gegen den Nationalsozialismus, wurde 1934 emeritiert.

Von der Förderung der Sozialarbeit von Frauen bis zum 1. Weltkrieg

Förderung der Sozialarbeit von Frauen
Schon auf seiner konstituierenden Versammlung hatte der Verein die Einbeziehung von Frauen, die bislang auf den Bereich der Privatwohltätigkeit beschränkt gewesen waren, in die behördliche Sozialarbeit grundsätzlich bejaht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gelangten prominente Vertreterinnen, vornehmlich aus der Kinder- und Jugendpflege, in den Zentralausschuss des DV, so die Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, Marie Baum, die Geschäftsführerin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Frieda Duensing, die Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, Agnes Neuhaus, und die Sozialpolitikerin Helene Simon. Auch der Eintritt der berühmten Frauenrechtlerin und Gründerin der Sozialen Frauenschulen, Alice Salomon, in den Zentralausschuss im Jahr 1910 verdeutlichte die Aufgeschlossenheit des Vereins gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung und der sozialen Berufsarbeit von Frauen. Als 1912 aus der "Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit" in Berlin die erste Geschäftsstelle des DV hervorging, wurde mit ihrer Leitung Dorothea Hirschfeld betraut, die gleichzeitig als erste hauptamtliche Referentin in die Vereinsgeschichte einging

Von der Armenpflege zur sozialen Fürsorge
Mit dem Begriff der "sozialen Ausgestaltung der Fürsorge" wies Karl Flesch 1901 der Weiterentwicklung der traditionellen Armenfürsorge zur sozialen Fürsorge den Weg. Der DV befasste sich nun mit allen Facetten der Wohlfahrtspflege von der Arbeitslosen- über die Wohnungs- bis zur Gesundheitsfürsorge. Breiten Raum nahm auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschließlich der "Zwangserziehung" ein. Mit Christian Jasper Klumker hatte der DV einen der führenden Experten auf diesem Gebiet in seinen Reihen. Hinsichtlich der Armenunterstützung befürwortete der Verein zwar weiterhin repressive Maßnahmen, bot aber auch ein Forum für fortschrittliche Ideen. So wurde bereits im Jahre 1905 vorgeschlagen, einen Rechtsanspruch auf Fürsorge gesetzlich zu fixieren, eine Forderung, die erst 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz erfüllt wurde. Zudem sorgten Fachleute wie Rudolf Schwander dafür, dass das "Elberfelder System" den gewachsenen Erfordernissen der Gegenwart angepasst und zum "Straßburger System" weiterentwickelt wurde. Die "Schriftenreihe des Deutschen Vereins", in der bis 1918 insgesamt 107 Titel erschienen, und die "Zeitschrift für das Armenwesen", die der DV seit 1906 als Publikationsorgan nutzte, spiegeln die Bandbreite der behandelten Themen wider.


Foto vom Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg,
Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg, Sitz der ersten Sozialen Frauenschule, 1908 gegründet von Alice Salomon


Neue Herausforderungen im Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg leitete eine Phase der Umorientierung und Modernisierung des DV ein. Er beteiligte sich an der "Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt" und anderen Zusammenschlüssen der großen Wohlfahrtsorganisationen. In den Vordergrund rückte verstärkt die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen — Personengruppen, die den Rahmen der traditionellen Armenpflege sprengten und auch nach dem Ende des Krieges von Bedeutung blieben. Zudem war der DV auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt aktiv und setzte sich für das Jugendamt als Träger der öffentlichen Jugendfürsorge ein. Es zeichnete sich ab, dass der DV auf den Wandel der inhaltlichen Arbeit mit einer Erneuerung seiner Organisationsstruktur reagieren musste.

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