Fünf Fragen an Dr. Julia Schneider

dv aktuell: Worin besteht die Besonderheit, wenn Menschen mit Demenz ins Krankenhaus müssen?

Dr. Julia Schneider: Die Besonderheit ist, dass Menschen mit Demenz eine erhöhte psychische Verletzlichkeit und eine verminderte Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufweisen. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich ausreichend vor Umwelteindrücken und -einflüssen zu schützen, was dazu führt, dass eine unruhige und laute Umgebung deren Reizbarkeit rasch ansteigen lässt. Eine Krankenhauseinweisung kann verhaltensbezogene und psychische Symptome (z.B. Schlafstörungen oder motorische Unruhe) von Menschen mit Demenz in Folge von Desorientierung und Angstzuständen verstärken.

Krankenhäuser sind meist weder strukturell noch personell auf Menschen mit Demenz vorbereitet. Die Folgen und Auswirkungen für und auf Menschen mit Demenz sind vielschichtig und reichen von einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes, dem Verlust der bis dato noch bestehende Selbstständigkeit bis hin zum Tode. Mitarbeitende in Krankenhäusern nehmen bei der Betreuung und Versorgung von Menschen mit Demenz eine Schlüsselrolle ein. Sie können in gewissem Maße beeinflussen, wie sich der Krankenhausaufenthalt für Menschen mit Demenz entwickelt und inwieweit ihr Selbständigkeitsniveau erhalten bleibt. Dafür benötigen sie jedoch ausreichendes und zielgruppenspezifisches Wissen.

dv aktuell: Warum konzentrieren Sie sich in Ihrer Arbeit speziell auf den Bereich der Notaufnahme?

Dr. Julia Schneider: Im Funktionsbereich der Notaufnahme scheint im Allgemeinen noch erhebliches Entwicklungspotenzial mit Blick auf die Thematik Demenz zu bestehen. Die Notaufnahme ist oftmals eine sehr unruhige Umgebung, in der sich Arbeitsabläufe rasch verändern können und zeitliche Ressourcen begrenzt sind. Bei Menschen mit Demenz führt dies zur Reizüberflutung und Stress. Die kognitive Einschränkung kann dadurch zeitweise verstärkt werden, wobei bei längerer Dauer die Gefahr besteht, dass der Ausgangszustand nicht im gleichen Maße wiederhergestellt werden kann.

Des Weiteren richten sich demenzspezifische Bildungsmaßnahmen meist an interprofessionelle Zielgruppen, wobei nicht klar war, ob die durchgeführten Schulungen die Bedürfnisse der einzelnen Berufsgruppen erfüllen. Das Gleiche galt für die unterschiedlichen Arbeitsbereiche in einem Krankenhaus. Es konnte vermutet werden, dass Mitarbeitende desselben Berufes, tätig in verschiedenen Fachbereichen eines Krankenhauses, unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse an eine demenzspezifische Bildungsmaßnahme haben. Dem wollte ich am Beispiel der Notaufnahme nachgehen.

dv aktuell: Sie untersuchen konkret Bildungsmaßnahmen für Beschäftigte in Notaufnahmen zum Thema Demenz. Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Untersuchung?

Dr. Julia Schneider: Die Ergebnisse zeigen , dass durch eine einmalige zweitägige, demenzspezifische Fortbildungsmaßnahme Wissen über Demenz erworben und die Einstellung der Beschäftigten in Krankenhäusern längerfristig positiv beeinflusst werden konnten. Damit sich dies jedoch im Verhalten und Handeln der Mitarbeitenden widerspiegelt und nachhaltige Veränderungen eintreten, bedarf es zum einen einer positiven Stations- und Unternehmenskultur, die in strukturellen und prozessualen Veränderungen mündet, zum anderen muss die Bildungsmaßnahme interaktiv, praxisnah und auf die entsprechende Zielgruppe zugeschnitten sein.

Neben strukturellen und prozessualen Veränderungen, wie beispielsweise der Implementierung eines speziellen Behandlungspfades für Menschen mit Demenz, ist der letztgenannte Aspekt für den Funktionsbereich der Notaufnahme sehr entscheidend. Fortbildungen für Mitarbeitende, tätig in Notaufnahmen, müssen die Arbeitsrealität der notfallmedizinischen Versorgung in Krankenhäusern abbilden, andernfalls wird eine Übertragung der Inhalte aus der Bildungsmaßnahme in die Arbeitspraxis kaum stattfinden.

dv aktuell: Für Krankenhäuser kann Ihre Untersuchung wertvolle praktische Erkenntnisse für die Versorgung von Menschen mit Demenz liefern. Was wünschen Sie sich hinsichtlich der Umsetzung vor Ort?

Dr. Julia Schneider: Zum einen würde ich mir wünschen, dass der Thematik Demenz in Krankenhäusern mehr Bedeutung beigemessen wird – im Allgemeinen, aber auch mit Blick auf demenzspezifische Bildungsmaßnahmen. Mitarbeitende in Krankenhäusern scheinen jährlich recht viele Fortbildungen/Schulungen zu besuchen, die wenigsten nehmen jedoch an demenzspezifischen Bildungsmaßnahmen teil. Tun sie dies doch, fällt die Umsetzung der gelernten Inhalte in der Arbeitspraxis oftmals schwer, da unterstützende Rahmenbedingungen fehlen. Damit deutlich wird, was sich im Arbeitsalltag und in der Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz verändern soll, ist die Formulierung eines klaren Praxisauftrags sinnvoll. Zusätzlich ausgebildete Fachkräfte für Demenz können die Umsetzung des Praxisauftrags unterstützen.

Zum anderen würde ich mir bei der Planung, Entwicklung, Adaptation und Umsetzung von demenzspezifischen Bildungsmaßnahmen den Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse wünschen. Es ist nicht zwingend notwendig, neue Bildungsmaßnahmen zu entwickeln. Durch die Erkenntnisse in der Forschung können bereits bestehende Bildungsmaßnahmen angepasst werden. Ich glaube zudem, dass eine Vernetzung mit anderen Krankenhäusern, die bereits demenzsensible Strukturen etabliert haben (wie z.B. Bildungsmaßnahmen für Mitarbeitende), sehr hilfreich und unterstützend sein kann.

dv aktuell: Ihre Forschung war in ein interkulturelles Forschungsprojekt mit griechischen Wissenschaftler/innen eingebettet. Gabe es hier für Sie überraschende Erkenntnisse?

Dr. Julia Schneider: Überrascht hat zum einen die Erkenntnis, dass in Griechenland bereits im Jahr 2017 eine nationale Demenzstrategie verabschiedet wurde, jedoch bis zum Zeitpunkt unserer Datenerhebung in Griechenland keine demenzspezifischen Bildungsmaßnahmen für Mitarbeitende in Krankenhäusern bekannt waren. In Deutschland zeichnete sich ein anderes Bild ab. Im internationalen Vergleich benötigte Deutschland lange, um sich der Planung und Entwicklung einer Nationalen Demenzstrategie zu widmen (2019-2020). Trotzdem gab es bereits einige Projekte, die sich mit dem Aufbau demenzsensibler Krankenhäuser befassten. Dabei waren systematische Schulungen bereits Bestandteil der meisten konzeptionellen Projekte (siehe auch Förderprogramm der Robert Bosch Stiftung). Aus unterschiedlichen Gründen fanden diese im internationalen wissenschaftlichen Diskurs jedoch keine Beachtung.

Zum anderen deckten sich bei unserer Befragung in Griechenland und Deutschland die Erwartungen der Teilnehmenden an eine demenzspezifische Bildungsmaßnahme nicht in Gänze. In Deutschland wurden vor allem konkrete praktische Ratschläge erwartet, wohingegen in Griechenland ein besserer Umgang mit Menschen mit Demenz erhofft wurde. Aufgrund der unterschiedlichen Ausgangssituationen konnte der Rückschluss gezogen werden, dass bereits implementierte Bildungsmaßnahmen aus anderen Ländern nicht einfach auf Deutschland übertragen werden können.


dv aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.

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