Drei Fragen an Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin

dv aktuell: Frau Dr. Tezcan-Güntekin, in Ihrer Doktorarbeit beschäftigen Sie sich mit der Stärkung der Selbstmanagementkompetenzen von pflegenden Angehörigen türkeistämmiger Menschen. Welche Erkenntnisse aus Ihrer Arbeit haben Sie am meisten überrascht?

Dr. Hürrem Teczan-Güntekin:Vor allem überraschte hat mich der Feldzugang. Da ich selbst türkeistämmig bin, die Muttersprache gut beherrsche und vermeintlich aus dem gleichen kulturellen Kreis komme, dachte ich, dass die Akquise von Interview-Teilnehmerinnen einfach wäre. Tatsächlich habe ich fast drei Jahre gebraucht, um zehn Familien oder Angehörige zu erreichen. Ich habe viele angesprochen, aber viele waren trotz des intensiven Kontakts und Vertrauens nicht bereit, ein Interview zu führen. Das war eine große Überraschung und hat einige Reflektionen erfordert. Daraus sind viele interessante Diskussionen entstanden. Ich habe diese Problematik aufgegriffen und auf Tagungen thematisiert. Der Erfahrungsaustausch hat gezeigt, dass es anderen teilweise ähnlich erging. Für viele war es aber auch eine neue Erkenntnis.

Eine weitere überraschende Erkenntnis war die große Heterogenität, auf die ich gestoßen bin. Ich bin davon ausgegangen, dass ich kulturspezifische Bedürfnisse herausfinden werde. Aber während des Projekts habe ich festgestellt, dass man diese überhaupt nicht pauschalisieren kann.

Die Bedürfnisse sind sehr heterogen und in manchem sehr ähnlich derer von Angehörigen Pflegebedürftiger ohne Migrationshintergrund. Es war daher überhaupt nicht möglich, eine generelle Kategorisierung hinsichtlich der Kultur vorzunehmen. Es gibt einige wenige Faktoren, die tatsächlich bei Türkeistämmigen häufiger vorkommen. Im Ergebnis musste ich aber während des Forschungsprozess meinen eigenen Blick auf Migration hin zu Diversität öffnen – das hat mich sehr überrascht.

dv aktuell: Wie unterscheidet sich die Situation von pflegenden Angehörigen türkeistämmiger Menschen zu nicht-türkeistämmigen Menschen?

Dr. Hürrem Teczan-Güntekin:Zunächst gibt es viele Ähnlichkeiten in Alltagssituationen. Statistiken zufolge wünschen sich 66 Prozent in der autochthonen Gesellschaft und 75 Prozent in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, zuhause von Angehörigen gepflegt zu werden. Hier gibt es also keinen großen Unterschied. Auch bei den individuellen Bedürfnissen gibt es Ähnlichkeiten, so ist beispielsweise die gleichgeschlechtliche Pflege bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowohl bei Männern als auch bei Frauen ein Thema.

Es gibt aber auch Unterschiede: Pflegende Angehörige türkeistämmiger Menschen übernehmen in einem höheren Maß tatsächlich die Pflege – auch wenn hier die Erwartungen in beiden Gruppen ähnlich sind. Es wird stärker als Selbstverständlichkeit angesehen, da Pflege immer noch Familiensache ist und übernommen werden will. Man kann sagen, dass es ein Bedürfnis der Angehörigen ist, diese Aufgabe zu übernehmen. Allerdings gibt es eine stärkere Tabuisierung der Demenzerkrankung, obwohl dies auch in der autochthonen Gesellschaft nicht tabufrei ist, z.B. sind auch hier Demenzerkrankte und ihre Angehörigen eigentlich nicht in der Öffentlichkeit sichtbar. Unterschiede gibt es auch in der Erreichbarkeit für Unterstützungsangebote. Menschen mit Migrationshintergrund sind schwieriger zu erreichen, da sie das Pflegesystem nicht gut kennen und auch weniger Vertrauen in die Angebote haben.

dv aktuell: Sie haben in Ihrer Arbeit innovative Handlungsansätze für die altenpflegerische Praxis entwickelt und wollen diese in Folgeprojekten erproben. Welche Inhalte und Ziele haben Ihre Folgeprojekte?

Dr. Hürrem Teczan-Güntekin:In einem Projekt geht es um eine innovative Selbsthilfegruppe, bei der die pflegenden Angehörigen von türkeistämmigen Menschen mit Demenz sich selbst über WhatsApp vernetzen können. Sie lernen sich zunächst persönlich – also ganz real – kennen. Sie sprechen sich dann darüber ab, unter welchen Bedingungen sie dieses Medium wie nutzen wollen. Es geht darum, die Selbsthilfe aus diesem statischen Raum und der statischen Zeit in einen dynamischen Raum zu transferieren, wo es leichter ist, ins Gespräch zu kommen, es aber auch leichter ist, aus dem belastenden Gespräch wieder herauszugehen. Die Idee ist entstanden, als ich drei Jahre lang Kontakte zu pflegenden Angehörigen hatte. Innerhalb dieser Zeit wählten die Angehörigen sehr häufig nach meinem ersten Anruf WhatsApp als Kommunikationsmedium mit mir. Ich stellte fest, dass es ihnen durch dieses Medium leichter fiel, mit mir zu kommunizieren. Diese Erkenntnis habe ich nebenbei gewonnen und musste sie einfach aufgreifen. Daran ansetzend habe ich dann das Projekt mit Kolleginnen und Kollegen zusammen bei der Alzheimer-Gesellschaft beantragt.

Bei dem anderen Projekt geht es um eine aufsuchende Beratung und Betreuung von pflegenden Angehörigen demenzerkrankter Menschen mit Migrationshintergrund, die kontinuierlich einmal im Monat stattfindet. Damit sollen die immer wieder neuen Herausforderungen für pflegende Angehörige – die sich durch den dynamischen Verlauf der Demenzerkrankung immer wieder stellen – besprochen werden. Außerdem werden sie bei ihrer Rollenfindung unterstützt, um die Pflegerolle mit ihrer eigentlichen Rolle besser vereinbaren zu können.

dv aktuell:Vielen Dank für das Gespräch.


Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin ist die diesjährige Preisträgerin des Cäcilia-Schwarz-Förderpreis für Innovation in der Altenhilfe des Deutschen Vereins.

Weitere Preisträgerinnen, das Kuratorium und Informationen zum Preis

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