Drei Fragen an Alfonso Lara Montero

"Es ist mehr denn je wichtig, die Bedeutung der Sozialpolitik zu betonen"

In einem Gespräch mit dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. erläuterte der Geschäftsführer des European Social Network (ESN) Alfonso Lara Montero die Lage des Sozialen in Europa und welche sozialpolitischen Impulse nach der Europawahl im Mai zu erwarten sind.

Das ESN vertritt seit fast 30 Jahren die Interessen von Sozialamtsleiter/innen und lokalen sozialen Diensten bei den EU-Institutionen und ist vor allem im Bereich der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik aktiv. Das Netzwerk zählt mittlerweile über 125 Kommunen und Vereinigungen kommunaler Vertreter/innen aus 33 europäischen Staaten zu seinen Mitgliedern, Tendenz steigend. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. ist seit 2008 Mitglied im ESN.

Vor seiner Zeit als Geschäftsführer von ESN war Alfonso Montero etliche Jahre als Referent beim ESN für die Bearbeitung von Themen wie psychische Gesundheit, Dienstleistungen für Kinder, integrierte Dienste sowie Arbeitskräfte und evidenzbasierte soziale Dienste im Kontext europäischer Entwicklungen verantwortlich.

dv aktuell: Herr Montero, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. ist seit vielen Jahren im Bereich der europäischen Sozialpolitik aktiv und hat in den letzten 10 bis 15 Jahren spürbare Veränderungen für die Sozialagenda der Europäischen Union (EU) erlebt. Wie hat sich Ihrer Meinung nach das Themenspektrum im Zusammenhang mit sozialen Zielen und Prioritäten in der EU-Politik im Laufe der Jahre verändert?

Alfonso Montero:Mit den politischen Prioritäten der Europäischen Kommission von 2014 einerseits und denen des weiteren wirtschaftlichen und sozialen Umfelds andererseits hat sich eine Reihe von Änderungen ergeben. 2010 beschloss die Europäische Kommission mit den EU-Mitgliedstaaten die Strategie "Europa 2020". Konzentrierte sich die vorherige europäische "Lissabon-Strategie" auf die "Offene Methode der Koordinierung" der nationalen Sozialpolitiken und vor allem auf ein Benchmarking, einigten sich die Staats- und Regierungschefs mit der "Europa 2020-Strategie" auf konkrete Ziele zur Verringerung von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung sowie vorzeitigem Schulabbruch. Die 2014 ernannte Europäische Kommission hat angekündigt, weiterhin auf diese Ziele hinzuarbeiten. Letztlich gab es jedoch keine Klarheit über die Umsetzungsschritte und keine klare Fortsetzung. Die "Europäische Plattform zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung", die seit 2011 für die Bewertung der Fortschritte mit Blick auf die sozialen Ziele zuständig war, stellte ihre Treffen irgendwann ein.

Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa und der Schwierigkeiten in einer Reihe von Ländern hat die Europäische Kommission, gemeinsam mit Regierungen in Ländern wie in Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien, Entscheidungen getroffen, die hauptsächlich auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhten. Dies führte zu negativen sozialen Auswirkungen, die die Bevölkerung dort noch immer betreffen. Wirtschaftliche und soziale Aspekte sind eng miteinander verknüpft und können nicht wirklich voneinander getrennt werden. Die Entscheidungen der EU-Kommission führten letztlich zu einer Einschränkung der Sozialpolitik, da sie die soziale Agenda außer Acht ließen. Ich denke, dass die Europäische Kommission dann die Notwendigkeit erkannt hat, soziale Probleme wieder aufzugreifen, und deshalb 2015 die "Europäische Säule sozialer Rechte" vorschlug – sieben Jahre nach dem Beginn der Krise. Die "Europäische Säule" ist eine politische Erklärung, die den Völkern Europas sagen will, dass soziale Fragen erneut Beachtung finden sollten. Sie ist jedoch nicht rechtsverbindlich. Die Umsetzung der Rechte und Grundsätze der Europäischen Säule soll anhand einer Reihe von Empfehlungen im Rahmen des jährlichen "Europäischen Semesters" bewertet werden, bei dem es sich um den Koordinierungszyklus zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission handelt – hauptsächlich aus wirtschaftlicher Sicht, wenn auch in den letzten Jahren Einschätzungen zu sozialen Aspekten, insbesondere zu beschäftigungsrelevanten, an Bedeutung gewonnen haben.

dv aktuell: Welche Veränderungen erwarten Sie in der europäischen Sozialpolitik nach den Europawahlen im Mai 2019?

Alfonso Montero:Abhängig von der Zusammensetzung des neuen Europäischen Parlaments und der neuen Europäischen Kommission könnte es passieren, dass die neue EU-Kommission sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen konzentriert, oder es könnte eine Verschiebung hin zu einer breiteren Berücksichtigung der sozialen Eingliederung geben, was natürlich von ESN unterstützt würde. Wir wissen es noch nicht. Wir müssen uns der Trends bewusst sein, die in ganz Europa und darüber hinaus stattfinden, und wie sich die Sozialpolitik und die Umsetzung dieser Politik verändern. Wichtige gemeinsame Werte werden in Frage gestellt. Es ist mehr denn je wichtig, dafür zu sorgen, dass wir die Bedeutung der Sozialpolitik für die Unterstützung unserer Gesellschaften und die Rolle, die die Europäische Kommission und das Europäische Parlament dabei spielen können, bei der Sensibilisierung und Initiierung von Initiativen in diesem Bereich betonen. Dies kann EU-Richtlinien betreffen in den Bereichen, wo der Erlass europäischer Regelungen möglich ist z. B. für die Beschaffung von Dienstleistungen, aber auch bezogen sein auf Benchmarking und Förderinstrumente zur Unterstützung von mehr Solidarität und mehr Zusammenhalt in Europa.

dv aktuell: Und welche Themen stehen auf der Agenda des Europäischen Sozialen Netzwerks?

Alfonso Montero: ESN ist ein unabhängiges Netzwerk. Unser Hauptanliegen ist die Unterstützung unserer Mitglieder und derjenigen, die – wie unsere Mitglieder – in öffentlichen lokalen Sozialdiensten in ganz Europa arbeiten. Für sie ist es wichtig zu wissen, wie Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern ähnliche Probleme lösen.
ESN arbeitet derzeit am Thema Qualität. Wir haben untersucht, wie sich die Qualität in den letzten Jahren verändert hat, und dies zum Hauptthema unserer Jahreskonferenz 2019 in Mailand gemacht. Es ist ein Thema, das auch auf der Konferenz im nächsten Jahr, die wir in Deutschland im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft veranstalten werden, eine herausragende Rolle spielen wird. Wir werden Qualitätsverbesserungen mit Fokus auf die Pflege in der örtlichen Gemeinschaft (community care) anstreben: Änderungen in der Organisation der Pflege vor Ort, wie die Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer und ihrer Familien an der Pflege innerhalb der Gemeinschaft sichergestellt werden kann, wie die professionellen Kräfte unterstützt und geschult werden müssen, welche Art von Qualifikationen für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind und wie Beziehung zwischen den Fachkräften und weiteren Interessengruppen in der Gemeinschaft aussehen.

Andere Themen, an denen wir im Rahmen unseres Vier-Jahres-Programms mit der Europäischen Kommission bis 2021 arbeiten, beziehen sich auf integrierte Angebote zur Betreuung und Unterstützung, u.a. wie soziale Dienste mit anderen Diensten zusammenarbeiten, um Menschen mit multiplen Bedarfen zu helfen – bewertet aus einer multiprofessionellen Perspektive – sowie auf die Digitalisierung sozialer Dienstleistungen, ein Thema, das Innovationen beinhaltet und durch eine neu gegründete Arbeitsgruppe im ESN 2019 bewertet wird. Wir setzen zudem die Arbeit in unseren übergeordneten Arbeitsgruppen fort, eine zum „Europäischen Semester 2019“, an der auch der Deutsche Verein teilnimmt, und eine weitere zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Diese Arbeitsgruppe haben wir 2018 gestartet, um die politischen Rahmenbedingungen der EU mit den relevanten internationalen Rahmenbedingungen zu verknüpfen. Mit dieser Arbeit unterstützen wir unsere Mitglieder dabei, Wissen über diese laufenden Prozesse zu erlangen, damit sie Einfluss darauf nehmen können.

Für uns ist es sehr wichtig, dass neben politischen Maßnahmen auch Instrumente wie EU-Fonds und EU-Förderprogramme, die unsere Mitglieder häufig zur Bereitstellung ihrer Sozialdienstleistungen verwenden, eine Rolle in der ESN-Arbeit spielen, um Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen, so z. B. der Europäische Sozialfonds, der Europäische Fonds für Regionalentwicklung oder der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen. Es gibt Beispiele von ESN-Mitgliedern, die sich gemeinsam für europäische Projekte bewerben, die aus dem Sozialinnovationsfonds finanziert werden, sowie von einzelnen Mitgliedern, die derzeit mit EU-Mitteln soziale Innovationsprogramme durchführen. Das Sekretariat von ESN berät sie, da wir ja seit 28 Jahren auf europäischer Ebene tätig sind, und ihre Erfolge beweisen, dass sie als Mitglied unseres Netzwerks Erfolg darin haben können. Der Einsatz von EU-Mitteln für soziale Innovationen zeigt, dass unsere Mitglieder die sozialen Herausforderungen aus einer progressiven Perspektive angehen.

Die EU berät gerade ihren neuen Finanzierungsrahmen für die nächsten Jahre. ESN verfolgt die Fortschritte der Verhandlungen und organisiert am 9. April 2019 mit ESN-Mitgliedern und Mitgliedern des Europäischen Parlaments eine Debatte im Europäischen Parlament in Brüssel, um zu erörtern, wie der neue Finanzierungsrahmen aus Sicht der Sozialdienste aussehen sollte. Dies ist der Schlüssel, um sicherzustellen, dass diejenigen, die vor Ort arbeiten, die Vorteile europäischer Initiativen im Bereich der Sozialpolitik später auch nutzen können.

dv aktuell: Herr Montero, vielen Dank für das Interview!


Informationen zum ESN

Bild von Cornelia MarkowskiDas Interview führte Cornelia Markowski, sie ist als Leiterin der Stabsstelle Internationales tätig.

Das Interview ist auch in englischer Sprache abrufbar unter: https://www.deutscher-verein.de/en/uploads/dateien-stab-internationales/interview-alfonso-lara-montero-2019.pdf

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