Drei Fragen an Peter Renzel

b">Vom 10. bis 12. Mai 2022 veranstaltet der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. auf Einladung der Stadt Essen und des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen seinen 82. Deutschen Fürsorgetag in Essen. Unter dem Motto "Der Sozialstaat sichert unsere Zukunft – sichern wir den Sozialstaat!" wollen wir die Herausforderungen für das Soziale diskutieren und Lösungsimpulse für einen modernen und effektiven Sozialstaat formulieren. In einem Kurzinterview erläutert Peter Renzel, Sozialdezernent der Stadt Essen und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Vereins, seine Erwartungen an den Fürsorgetag.



dv aktuell: Herr Renzel, wir leben in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen und Herausforderungen, für die wir auch einen modernen und effektiven Sozialstaat brauchen. Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?

Peter Renzel: Der Sozialstaat steht vor großen, aber auch komplexen Herausforderungen. Aktuell stellen der demografische Wandel, die Globalisierung und ebenso die Digitalisierung der Arbeitswelt den Sozialstaat vor bisher nicht gekannte Herausforderungen. Soll und muss der Sozialstaat umgebaut, eingeschränkt oder ausgebaut werden?

Die Komplexität der Problemstellungen wird besonders beim Blick auf die demografischen Verschiebungen im Verhältnis der Generationen deutlich. Verteilungskonflikte und eine hohe Expansion der Ausgaben in verschiedenen Bereichen resultieren daher, dass einer quantitativen Zunahme der Anspruchsberechtigten in der Einkommensverteilung (z.B. der Rentner, aber auch der rasante Anstieg von Arbeitnehmern im Niedriglohnsektor, Zahl der Langzeitarbeitslosen) eine sinkende Zahl an Erwerbspersonen gegenüberstehen, die die soziale Sicherung finanzieren.

Die damit auch einhergehende Diskussion um Armut in Deutschland und den Sinn und Zweck von Sozialleistungen sollte m. E. unbedingt zuallererst von der Frage geleitet sein, wie das jahrzehntelange propagierte Wohlstandsversprechen der deutschen Gesellschaft angesichts dieser Herausforderungen auch künftig eingelöst werden kann. Dabei geht es unbedingt um mehr als die Höhe der jeweiligen staatlichen Zahlungen an Menschen in Not. Es geht im Kern um die Teilhabe der Menschen im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Alltag, also tatsächlich damit auch um die Stabilität unseres demokratischen Gemeinwesens.

Jenseits aller Kontroversen gibt es m. E. einen Konsens im Hinblick auf die zentrale Funktion von Bildung als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Wohlstand. Ihr Erfolg wird deshalb auch daran gemessen, ob es ihr gelingt, das zentrale Versprechen moderner Gesellschaften einzulösen, nämlich mit Bildung soziales Auskommen oder gar den sozialen Aufstieg zu erreichen.

Der soziale Status eines Menschen hängt noch stärker von dem seiner Vorfahren ab als bislang angenommen. Das hat auch eine Studie der Arbeitsmarktforscher Sebastian Braun vom Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) und Jan Stuhler von der Universität Madrid ergeben. Der Schluss der Forscher: „Die soziale Mobilität in Deutschland ist deutlich geringer als bislang angenommen.“

Wenn es im Kern also um die Teilhabe der Menschen im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Alltag geht, müssen wir „gelingende Bildungsbiografien ergebnisorientiert organisieren“ und jenseits von Länder- und Partikularinteressen zum bundesweiten Thema für unsere zentrale Aufgabe „den Sozialstaat zukunftsfest zu sichern“ machen. Das schließt die Debatte über ein nationales Bildungssystem mit Ausführungsgesetzen der Länder mit ein. Bestes Beispiel ist das SGB VIII – bundesweiter Rahmen, länderspezifische Ausführungen und kommunale Verantwortung für die Praxis.



dv aktuell: Die Stadt Essen wird sich auf dem Fürsorgetag mit einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten präsentieren. Welche Themenschwerpunkte werden Sie setzen?

Peter Renzel: Wir haben das Thema „Gesundheit“ in den Mittelpunkt gestellt.
Nicht zuletzt hat uns die Pandemie wie unter einem Brennglas gezeigt, wie zentral in allen unseren Arbeitsfeldern des „Sozialen“ das Thema Gesundheit ist. Wir beschäftigen uns an unserem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten deshalb mit den Themenschwerpunkten „Gesund aufwachsen“, „Gesund leben und arbeiten“ und „Gesund im Alter“.
Wir stellen wichtige und innovative Angebote vor, haben unterschiedliche Tagesprogramme mit fachlichen Schwerpunkten vorbereitet. Wir diskutieren mit den Besucherinnen und Besuchern über unsere Konzepte, Erkenntnisse und freuen uns über den fachlichen Diskurs.
Wir freuen uns sehr auf unsere Gäste an unserem Messestand. Sie können sich auf viele interessante und kompetente Gesprächspartner aus Essen freuen.


dv aktuell: Welche Impulse erwarten Sie persönlich vom 82. Deutschen Fürsorgetag?

  • Peter Renzel: Für mich rankt sich aktuell alles um die Frage, wie der föderale Sozialstaat handlungsfähiger werden kann. Deshalb ist für mich das erste Symposium am ersten Tag der Ausgangspunkt meiner Erwartungen. „Föderaler Sozialstaat – Brauchen wir eine neue Balance der Verantwortung?“ Zur Beschreibung der Inhalte ist nichts hinzuzufügen.

  • Die Lebensverhältnisse zwischen Regionen und Quartieren driften – beschleunigt durch den demografischen, wirtschaftlichen und digitalen Strukturwandel – auseinander. Armut von Familien erschwert nicht nur das gelingende Aufwachsen von Kindern, es werden auch ungleiche Startchancen über Generationen weitergegeben. Bildungserfolge werden immer noch durch die soziale und kulturelle Herkunft bestimmt.

  • Diesen Herausforderungen ist gemeinsam, dass sie nur durch ein Ebenen übergreifendes Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen gelöst werden können. Aber gerade hier knirscht es noch gewaltig. Die Befugnisse und Verpflichtungen sind – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – wenig nachvollziehbar verteilt. Sonderlösungen, z.B. um Finanzierungslücken zu schließen statt langfristiger Perspektiven, beherrschen das Feld. Formale Kriterien für die Zuteilung von Aufgaben und Ausstattung wirken strukturblind. Es bleibt offen, wie reale Bedarfe berücksichtigt werden, um Effizienz und Ausgleich zu sichern.

  • Der föderale Sozialstaat ist für die Menschen vor Ort unmittelbar erlebbar. Hier werden Haltungen geprägt, hier entscheidet sich, ob die Menschen ein positives, distanziertes oder gar negatives Verhältnis zum Staat entwickeln. Wir müssen uns mit den notwendigen Rahmenbedingungen auseinandersetzen, damit dies positiv gelingt. Welche Handlungsoptionen und Verantwortung haben Bund, Länder und Kommunen? Welche Anpassungen in einem föderalen Sozialstaat sind erforderlich, um ihn zukunftsfest zu gestalten? Welche Wege können beschritten werden?


  • Ich freue mich sehr auf den Deutschen Fürsorgetag, auf die vielen Gäste des „Sozialen in Deutschland“ in meiner Heimatstadt Essen. Auf viele Begegnungen, interessante Gespräche und interessante Symposien und Fachgespräche.




dv aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.

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