Drei Fragen an Dr. Henrike Voß

Dr. Johanna Henrike Voß ist eine der beiden Preisträgerinnen des Cäcilia-Schwarz-Förderpreis für Innovation in der Altenhilfe des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. im Jahr 2021. Sie wurde für ihre Dissertation "Was bindet Menschen mit Demenz an das Leben? – Eine erweiterte Perspektive auf Advance Care Planning" ausgezeichnet und teilt sich den mit 10.000 Euro dotierten Preis mit Dr. Cordula Endter aus Berlin.

Dr. Johanna Henrike Voß forscht seit 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg.

dv aktuell: Das Konzept "Advance Care Planning" kommt ursprünglich aus den USA. Warum wurde ACP entwickelt und wo liegen die Herausforderungen bei uns in Deutschland?

Dr. Johanna Henrike Voß: Die Ursprünge von ACP, auch als erweiterte Patientenverfügung bezeichnet, sind aus einer Unzufriedenheit im Umgang und in der Anwendung mit Patientenverfügungen heraus entstanden. Anfang der 2000er werden diese in den USA als gescheitert erklärt – ähnliche Stimmen werden, etwa zehn Jahre versetzt, hierzulande laut. Da vor allem immer wieder die Qualität, fehlende Aufklärung und fehlende Kommunikationsprozesse zwischen den Betroffenen und ihren An- und Zugehörigen bemängelt werden, legt ACP hier den Schwerpunkt.

Seit 2008 wird in Deutschland an der Implementierung von ACP gearbeitet. Erst 2015 wurde das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung verabschiedet und so die "Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase" im § 132g SGB V gesetzlich verankert.

Zu den Herausforderungen: Bisher fehlt eine Einheit im Namen und Konzept. Bei einer Vereinheitlichung sollte die Multidimensionalität der unterschiedlichen guten Konzepte erhalten bleiben – einem Modellbaukasten gleich, auf die individuellen Bedürfnisse des Verfügenden anwendbar. Es sollte mehr (unabhängige) Empirie geben. Die gesetzliche Verankerung geschah ferner zu schnell (innerhalb eines Jahres). Weiterhin wird an mancher Stelle das eigentliche Ziel von ACP, nämlich die Patientenzentrierung, von ökonomischen Bestrebungen verdrängt. Mit Blick auf Demenz ist ACP gesetzlich zu spät angesiedelt. Überdies fehlt eine Durchdringung des Konzeptes beim medizinischen Personal.

Die Herausforderungen potenzieren sich mit Blick auf Demenz um ein Vielfaches.


dv aktuell: Sie haben in Ihrer Dissertation die Wünsche, Werte und Motivlagen gegenüber dem Leben und Sterben bei demenziell erkrankten Personen untersucht. Was hat Sie dabei überrascht oder bewegt?

Dr. Johanna Henrike Voß: Das Vertrauen und die Tiefe, mit der mir einzelne Personen begegnet sind, war sehr beeindruckend. In der Diskussion steht ja immer die "Chance des Fremden" vs. "Vertrautheit". Ich habe erfahren dürfen, dass mir – als Fremde – mit sehr viel Nähe begegnet wurde. Es war überdies bemerkenswert, wie "frei" die Interviewten berichtet haben. Ich bin einem großen Bedürfnis, über das Thema Tod und Sterben zu sprechen, begegnet. Zum Teil hatte ich das Gefühl, dass endlich jemand dieses Thema aufnimmt und einen Gesprächsrahmen bietet.

Die Bedeutung von Familie ist auch hier zentral, aber in welcher Weise sie gerade die Entscheidungen hinsichtlich von Tod und Sterben prägen, war in Teilen neu für mich. Nicht umsonst kann ACP auch als erweiterte Biografiearbeit betrachtet werden. Die Klarheit mancher Gesprächspartner in ihren Entscheidungen war weiterhin sehr bemerkenswert.


dv aktuell: Für Pflegeeinrichtungen kann Ihre Untersuchung wertvolle praktische Erkenntnisse in der professionellen Begleitung von Menschen mit Demenz liefern. Was wünschen Sie sich hinsichtlich der Umsetzung vor Ort?

Dr. Johanna Henrike Voß: Wie oben bereits erwähnt, ist für mich der Ort des Pflegeheimes eigentlich viel zu spät. ACP sollte unbedingt schon im häuslichen Kontext Anwendung finden.

In meiner Arbeit habe ich Hinweise für die Entwicklung von Empfehlungen im Kontext von ACP und Demenz erarbeitet. Drei Schwerpunkte haben sich herauskristallisiert: Zentral ist die Qualifikation der Gesprächsbegleiter, weiterhin gilt es, die konzeptionelle Ausrichtung von ACP im Kontext von Demenz zu überdenken, und schließlich sollten die Rahmenbedingungen und Care-Netzwerke in Augenschein genommen werden.

Mit Blick auf Punkt 1 muss das Wissen über Demenz noch umfassender geschult werden. Ethische Reflektionsfähigkeit sollte trainiert werden und eine wertschätzende, respektvolle Haltung gegenüber Menschen mit Demenz gilt als unabdingbar. Die Kommunikation spielt bei ACP eine wichtige Rolle, im Kontext von Demenz gilt es hier (sowieso) besonders hinzuschauen. Da Demenz stets als Beziehungsgeschehen zu verstehen ist, sollten Menschen mit Demenz in jegliche Entscheidungen einbezogen werden. Überdies gilt es, mit einer grundsätzlichen Haltung der Absichtslosigkeit, gar Ergebnislosigkeit zu agieren. ACP strebt an, die/den Verfügende/n umfassend aufzuklären – das muss krankheitsbedingt infrage gestellt werden. Insgesamt erscheinen, hinsichtlich einer Demenz, Gespräche wichtiger als die Vorausverfügungen selbst – das beratende Moment, die Prozesshaftigkeit und der individuelle Gesprächsverlauf gelten als zentral.

Mit Blick auf die konzeptionelle Ausrichtung sollte stets ein holistisches Menschenbild im Zentrum stehen. Die "Rolle des Außen", also das Einbeziehen wichtiger An- und Zugehöriger, ist hier leitend – wobei Sorgebeziehungen über Familienmitglieder hinausgehen. Wenn Konzepte umfassend das Thema Demenz erarbeiten und umsetzen, dann sind diese so multidimensional und -perspektivisch gestaltet, dass sie (quasi) für jedes andere Krankheitsbild bzw. jede vulnerable Personengruppe anwendbar sind.

Aus der Gegenüberstellung fördernder und hemmender Aspekte von Lebensbindung wird erkennbar, dass es einen deutlich größeren Pool an förderlichen Facetten im Erleben der Lebensbindung zu geben scheint, um negative (hemmende) Aspekte auszugleichen und sie positiv zu beeinflussen. Demnach ist es von Bedeutung, die Rahmenbedingungen so zu beeinflussen und zu gestalten, dass fördernde Aspekte von Lebensbindung eines Individuums erkannt und (durch das Außen) unterstützt werden.

dv aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.


Dr. Johanna Henrike Voß ist eine diesjährigen Preisträgerinnen des Cäcilia-Schwarz-Förderpreis für Innovation in der Altenhilfe des Deutschen Vereins.



Die bibliografische Angabe zur Arbeit
Voß, H. (2021): Was bindet Menschen mit Demenz an das Leben? Eine erweiterte Perspektive auf Advance Care Planning

Nomos. ISBN 978-3-8487-8634-3 (erscheint Dezember 2021)
Der Link zum Buch

Weitere Preisträgerinnen, das Kuratorium und Informationen zum Preis[/linkintern

nach oben