Drei Fragen an Dr. Cordula Endter

Dr. Cordula Endter hat Europäische Ethnologie und Psychologie studiert und forscht seit vielen Jahren im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Alternsforschung zum Schwerpunkt: Technik und Digitalisierung. Für ihre Dissertation „Assistiert Altern. Die Entwicklung digitaler Technologien für und mit älteren Menschen“ hat sie 2021 den Cäcilia-Schwarz-Förderpreis für Innovation in der Altenhilfe des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. erhalten. Sie teilt sich die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung mit Dr. Johanna Henrike Voß. Seit Januar 2021 lehrt und forscht Dr. Endter als Vertretungsprofessorin für Soziale Gerontologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau/Görlitz.

Im Interview fragen wir aktuell auch, welche Folgen die Corona-Pandemie auf die digitale Teilhabe älterer Menschen hat.


dv aktuell: Frau Dr. Endter, Sie sind Psychologin und Anthropologin. Seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf ältere Menschen. Wie verändert die Digitalisierung den Alltag älterer Menschen?

Dr. Cordula Endter: Ich würde sagen, sie hat den Alltag schleichend verändert und dabei wenig auf die Bedarfe der älteren Menschen geachtet, sondern sich vor allem an dem orientiert, was technisch möglich, innovativ und ökonomisch einträglich ist. Durch die Corona-Pandemie ist aus dieser schleichenden Veränderung eine sehr abrupte, die unterschiedlichen Lebensbereiche älterer Menschen betreffende Veränderung geworden, die sowohl Chancen eröffnet als auch Risiken birgt, und dabei auch sehr disruptiv wirkt, gerade wenn es um die digitale Teilhabe einkommensschwacher, bildungsferner, alleinlebender älterer Menschen geht.

Aber wenn wir zuerst einmal auf die Chancen blicken, dann zeigen sich zum Beispiel neue Formen digital vermittelter sozialer Teilhabe und der Beziehungspflege zu entfernt lebenden Familienangehörigen oder auch Verwandten und Freunden. Die Nutzung kultureller Angebote, über Media- und Audiotheken, Podcasts und virtuelle Konzerte und Museumsbesuche. Damit sind aber auch alltägliche Dinge, wie Unterstützung beim Einkaufen, bei der Erledigung von Verwaltungsaufgaben und dem Einholen von Dienstleistungen, gemeint. Und nicht zuletzt die Möglichkeit, Informationen abzurufen, den Alltag zu organisieren und auch Gesundheitsleistungen und Beratungsangebote digital in Anspruch zu nehmen.

Gleichzeitig führen diese neuen Möglichkeiten aber auch dazu, dass analoge Angebote reduziert, wenn nicht sogar eingestellt werden. Das lässt sich sehr gut in den Bereichen von Verwaltung, Konsum und Mobilität, aber auch in den Bereichen Gesundheit und Versorgung beobachten. Immer mehr Leistungen – sei es das Buchen eines Arzttermins oder die Einreichung der Steuererklärung – können nur noch digital erledigt werden.

Ältere Menschen stellt das gerade im höheren Lebensalter vor große Herausforderungen, vor allem dann, wenn sie beispielsweise aufgrund mangelnder Technikerfahrung in der Erwerbsbiografie, aufgrund des ihnen zur Verfügung stehenden Einkommens oder aufgrund ihres sozialen Kapitals oder Geschlechts sich nicht zutrauen, digitale Technologien zu nutzen, es sich nicht leisten können oder nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen.

Natürlich gibt es hier auch diejenigen technikaffinen, neugierigen, sich selbst Hilfe und Unterstützung organisierenden älteren Menschen, die das Bild der ‚late adopters‘ geradezu karikieren. Was u.a. eine Studie aus den Niederlanden zur Durchsetzung von E-Bikes auch betont. Diese hätten niemals einen solchen Markterfolg erzielt, hätten nicht ältere Menschen diese anfänglich primär genutzt. Hier sind ältere Menschen vielmehr ‚early adopters‘. Als solche werden sie aber in der Öffentlichkeit viel zu selten wahrgenommen.

Allerdings macht die Zugänglichkeit und Komplexität digitaler Technologien eine solche leichte Erfahrbarkeit wie im Falle des E-Bikes nicht immer möglich. Zumal nicht jede digitale Technologie über ein analoges Pendant verfügt, das älteren Menschen schon bekannt und vertraut ist.

Es bestehen also große interindividuelle Unterschiede. Aber auch soziale und kulturelle Faktoren spielen eine Rolle. Ältere Onliner/Innen sind vorrangig besser gebildet, verfügen über ein mittleres bis hohes Einkommen, sind männlich und hatten bereits in ihrer Erwerbsarbeitsphase mit Technik zu tun. Mit Blick auf diese Ausgangslage wird deutlich, dass die Frage nach dem Veränderungspotenzial digitaler Technologien immer auch eine Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist. Denn bislang ist es vor allem so, dass soziale Ungleichheit durch die Digitalisierung verschärft wird. Meiner Einschätzung nach müssen wir also weniger von einer digitalen Spaltung als von einer durch Digitalisierung verschärften sozialen Spaltung sprechen.

Besonders betroffen sind davon hochaltrige, alleinlebende, arme und in stationären Einrichtungen lebende ältere Menschen, da ihnen häufiger die Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten wie auch die Ressourcen fehlen, um an der Digitalisierung teilzuhaben bzw. durch digitale Technologien Teilhabe zu erfahren.
Hier braucht es einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilisierung für die Bedarfe älterer Menschen im digitalen Wandel und entsprechender Angebote, die gerade diese Personengruppen unterstützen und stärken.


dv aktuell:Corona hat das gesellschaftliche Leben noch einmal stärker und schneller in den digitalen Raum verlagert. Mit welchen Konsequenzen für die Älteren?

Dr. Cordula Endter: Mit Blick auf ältere Menschen hat die Corona-Pandemie die der Digitalisierung inhärente Ambivalenz noch einmal viel deutlicher hervorgehoben. Einerseits kann man sagen, dass digitale Angebote, gerade im Bereich von Kommunikationen, Unterstützungsangeboten und Dienstleistungen auch ältere Menschen im Umgang mit den Herausforderungen der Pandemie unterstützt haben. Allerdings haben hier vor allem die jüngeren Alten von digitalen Angeboten profitiert und diejenigen, welche bereits digitale Technologien wie Smartphones und andere Endgeräte, Online-Banking und Online-Shopping genutzt haben und entsprechend vertraut mit den Technologien und Dienstleistungen waren und – ganz wichtig – über einen Internetzugang verfügten.

Das heißt aber andererseits auch, dass diejenigen, welche vor der Pandemie weder über ein Endgerät noch einen Internetzugang verfügten bzw. diese nur gering und wenig selbstständig nutzten, durch die Verlagerung der vielen Angebote in den digitalen Raum besonders herausgefordert waren.
Das betrifft natürlich auch die Möglichkeit, soziale Beziehungen mittels digitaler Technologien aufrechtzuerhalten und zu pflegen. Das hat aber auch die Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren und sozial teilzuhaben, beeinflusst.
Nicht zuletzt war gerade die Überführung öffentlicher Angebote und Dienstleistungen in digitale Formate für ältere Menschen mit geringer digitaler Ausstattung und Kompetenz eine Herausforderung.

Denn wer sollte gerade diejenigen unterstützen, die bis zum Beginn des ersten Lockdowns noch nicht über ausreichendes Wissen, Bedien- und Nutzungskompetenz wie auch technische Ausstattung verfügten.

Besonders dramatisch zeigte sich entsprechend die Situation für ältere Alleinlebende mit geringer sozialer Teilhabe, ältere Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen und älteren Menschen, die in stationären Einrichtungen leben.
Zwar gab es hier im Lauf der Pandemie Leuchtturmprojekte und Public Private Partnerships, die dazu führten, dass Heime mit Tablets ausgestattet wurden. Ohne zu marginalisieren, was das für die Bewohner/Innen bedeuten kann, muss dennoch die Frage gestellt werden: Und dann? Wer befähigt ältere Menschen darin, sich digitale Technologien anzueignen und selbstbestimmt zu nutzen? Wer ermöglicht ihnen digitale Teilhabe? Wie gelangen sie zu einem souveränen reflektierten Umgang? Diese Fragen gilt es dringend mit zu bedenken, wenn es um den Ausbau technischer Infrastruktur geht.

Und auch wenn sich diese Fragen für andere Nutzer/innengruppen ebenso stellen, möchte ich betonen, dass ältere Menschen aufgrund der Heterogenität und Diversität des Alters hier besondere Anforderungen und Bedarfe haben.
Deshalb plädiere ich stark für Angebote, die an die Lebenswelt älterer Menschen andocken, die auf bestehenden Unterstützungsstrukturen aufbauen und diese erweitern. Dazu braucht es eben auch diejenigen, die ältere Menschen darin unterstützen und befähigen. Das heißt, die Bildungsangebote müssen auch entsprechende Multiplikatoren erreichen und ebenso professionelle Akteure in den Bereichen der Altenhilfe und Altenarbeit.

Es gibt auf Länder- und Bundesebene dazu viele gute Beispiele, diese gilt es noch bekannter und verbreiteter zu machen. Damit vor allem diejenigen an der Digitalisierung teilhaben, die davon am meisten profitieren würden.

dv aktuell: Der Achte Altersbericht fordert u.a. Zugang zu Internet und digitalen Endgeräten für ältere Menschen. In Ihrer Dissertation gehen Sie aber noch weiter und setzen sich für die Beteiligung der älteren Menschen an der Entwicklung digitaler Technologien und Dienstleistungen ein. Warum? Welche Chancen sehen Sie?

Dr. Cordula Endter: Technikentwicklung ist ein hoch dynamisches, auf technische Innovationen und Markterfolg abzielendes Unternehmen, das bislang weitestgehend durch eine Logik gekennzeichnet ist, die auf technische Machbarkeit und Innovation setzt. In dieser technikorientierten Logik spielen soziale und kulturelle Faktoren eine nachgeordnete, wenn nicht sogar keine Rolle. Hier lässt sich innerhalb der Mensch-Technik-Interaktion und der Sozioinformatik zwar eine Öffnung gegenüber sozialen Aspekten beobachten, diese ist aber noch weit vom Mainstream entfernt.
Wenn es um die Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme geht – also um Systeme und Dienstleistungen, die explizit den Anforderungen der Nutzer/Innengruppe älterer Menschen entsprechen soll – kommt eine solche Logik an ihre Grenzen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die bereits erwähnte Heterogenität des Alters. Zudem nutzen ältere Menschen vor allem dann Technik, wenn der Nutzen für sie ersichtlich ist. Der Nutzen eines Smartphones und der sich damit erschließende Möglichkeitsraum wird allerdings erst durch die konkrete Nutzung erfahr- und gestaltbar.

Warum beschreibe ich das so ausführlich? Mein Punkt ist, dass erstens die technikdominante Logik innerhalb der Entwicklung digitaler Technologien und Dienstleistungen durchbrochen werden muss und zweitens der Heterogenität der Zielgruppe Rechnung getragen werden muss, will man sie als Nutzer/Innen erreichen und sie tatsächlich mit Hilfe technischer Angebote darin befähigen, ihr Altwerden selbstbestimmt und möglichst lange selbstständig zu gestalten. Dazu muss man sie an der Entwicklung dieser Technologien beteiligen.

Technikentwickler/Innen sind meist jung, männlich und stark innovations- und technikorientiert – auch wenn ich mich an dieser Stelle bei allen Technikentwickler/Innen entschuldigen möchte, die sich hier vorschnell von mir pauschalisiert fühlen – vielmehr möchte ich verdeutlichen, dass die Erfahrung des Alters und Alterns für diese Personengruppe, die sich aber in einer sehr entscheidenden Position befindet, nämlich die Technik zu entwickeln, eine fremde ist. Aus diesem Grund ist es zentral, dass eben jene Erfahrungen im Kontext von Technikentwicklung und Innovation ermöglicht und gemacht werden.

Eine Möglichkeit dazu ist die Beteiligung älterer Menschen im Prozess der Technikentwicklung, beispielsweise durch verschiedene auf Partizipation ausgerichtete Design-Strategien wie Co-Creation oder Participative Design. Eine solche Beteiligung muss ältere Menschen allerdings auch ernst nehmen, ihnen tatsächlich Raum und Handlungsoptionen und auch die nötige Zeit geben, die es braucht, sich zu trauen und mitzumachen. Partizipation selbst ist etwas, das ermöglicht werden muss und wozu auch befähigt werden muss.

Leider fehlt sowohl in den marktwirtschaftlichen wie auch institutionell geförderten Technikentwicklungsprojekten dafür bislang die nötige Offenheit und vor allem die Zeit.
Technikentwicklung ist ein sehr schnelles Geschäft mit harten Wettbewerbsbedingungen. Die Beteiligung vulnerabler Personengruppen, Personengruppen mit geringem sozialem oder ökonomischem Kapital oder Personen mit Migrationsgeschichte braucht jedoch Zeit. Hier bietet gerade die vom Bund finanzierte Technikentwicklung die Möglichkeit, diese Zeit einzuräumen. Dafür braucht es dann aber auch den politischen Willen, entsprechende Förderprogramme aufzusetzen.

Ich möchte aber noch auf eine zweite Möglichkeit neben der tatsächlichen Beteiligung älterer Menschen an Technikentwicklung hinweisen: Auch die Beteiligung von Sozialwissenschaftler/Innen und Gerontolog/Innen stellt eine Möglichkeit dar, um die Bedarfe und Anforderungen der zukünftigen Nutzer/Innen wie auch die sozialräumlichen Besonderheiten in der Technikentwicklung zu berücksichtigen. Hier schließe ich mich der Forderung Harald Künemunds an, dass vor der Technikentwicklung eine Problemanalyse stehen sollte, die auf Ergebnisse der gerontologischen Grundlagenforschung aufbaut und eine explorative Phase der Bedarfserhebung vor Antrag und Umsetzung stellt.

Eine solche partizipative, bedarfsorientierte und problembasierte Technikentwicklung kann dann im Zusammenspiel mit nahräumlichen, anbieterneutralen und kostenfreien Angeboten zum digitalen Kompetenzerwerb und in einem Sozialraum, der digitale Angebote gut integriert, tatsächlich dazu führen, dass digitale Technologien ein Instrument sind, das ältere Menschen unterstützt und zu einem guten Leben im Alter beiträgt.

dv aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.


Foto von Dr. Cordula Endter, Dirk Hasskarl Dr. Cordula Endter ist eine diesjährigen Preisträgerinnen des Cäcilia-Schwarz-Förderpreis für Innovation in der Altenhilfe des Deutschen Vereins.



Die bibliografische Angabe zur Arbeit
Endter, C. (2021): Assistiert Altern. Die Entwicklung digitaler Technologien für und mit älteren Menschen. Reihe Altern und Gesellschaft, Wiesbaden: Springer VS Verlag.

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