Der Griff nach den Sternen? & Die sozialpolitischen Schwerpunkte der neuen EU-Kommission

von Cornelia Markowski

Die gewählte Präsidentin der Europäischen Kommission, Dr. Ursula von der Leyen, hat am 10. Juli 2019 ihre europapolitischen Leitlinien für die künftige Europäische Union 2019-2024 vorgestellt. Sozialpolitisch knüpft sie am Konzept der sozialen Marktwirtschaft an. Angesichts der Neugestaltung unserer Industrie und Wirtschaftssysteme sei es nun höchste Zeit, das Soziale mit dem Markt in Einklang zu bringen. Dafür schlägt sie zwei Ansätze vor. Erstens sollen die Ziele der jährlichen Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der EU-Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission ("Europäisches Semester") neu ausrichtet werden. Maßstab sollen die sozialen, ökologischen und entwicklungspolitischen Ziele werden, die die Vereinten Nationen in ihrer Agenda 2030 für die Unterstützung von benachteiligten und diskriminierten Bevölkerungsgruppen und armen Menschen weltweit beschlossen haben. Diese Ausrichtung des "Europäischen Semesters" ist ganz im Sinne des Deutschen Vereins. Sie verleiht nicht nur der Agenda 2030 mehr politisches Gewicht und treibt deren Umsetzung in Europa voran, sondern stellt auch die Berücksichtigung einer breiten Palette explizit sozialer und nachhaltiger Ziele in der Wirtschaftspolitik der EU klar.

Zweitens will die gewählte Präsidentin die "Europäische Säule sozialer Rechte"(Europäische Säule) weiter verfolgen. Die Europäische Säule ist ein politisches Projekt, mit dem sich die EU-Organe vor knapp zwei Jahren selbst verpflichtet haben, Europa beschäftigungs- und sozialpolitisch für den Wandel der Arbeitswelt und künftige Krisen stark zu machen. Durch Initiativen der EU-Kommission soll der Rahmen für Sozialreformen in den Mitgliedstaaten so gesetzt werden, dass "Rechte" und garantierte Grundsätze zur Verwirklichung von Chancengleichheit, besserer Erwerbsintegration, fairen Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und sozialer Eingliederung europaweit nach und nach auf einem hohen Niveau angeglichen werden (Aufwärtskonvergenz). Die Kommissionspräsidentin in spe wird sich dabei zunächst auf Aktionen im Beschäftigungskontext und gleichstellungspolitische Fragen konzentrieren und hat angekündigt, bis Februar 2020 als erste Maßnahme einen Gesetzesvorschlag für gerechte Mindestlöhne vorzulegen. Problematisch ist die Kompetenzgrundlage für eine solche Regelung. Laut der europäischen Verträge obliegt die Lohnpolitik den Mitgliedstaaten, weshalb schon der jetzige Kommissionschef, Jean-Claude Juncker, mit seiner Forderung nach einer europäischen Lohnuntergrenze nicht durchdrang. Der EU sind unterstützende Maßnahmen insbesondere in den Bereichen Arbeitsschutz, soziale Sicherheit und Sozialschutz, berufliche Eingliederung und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz vorbehalten. 1993 stützte die EU-Kommission einen Versuch, die Diskussion der Mitgliedstaaten über Maßnahmen zum effektiven Schutz des Rechts auf ein angemessenes Arbeitsentgelt zu entfachen, auf die Europäische Sozialcharta. Die Charta ist ein von vielen Europaratsstaaten unterschriebenes Abkommen. Das Vorhaben scheiterte letztlich am hartnäckigen Widerstand etlicher Mitgliedstaaten (noch vor der Osterweiterung der EU). Je nachdem, welche Kriterien oder welchen Referenzrahmen Frau von der Leyen in Kürze vorschlagen wird, um sicherzustellen, dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin in der EU einen gerechten Mindestlohn erhält, der ihm oder ihr einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, wird es für die Unternehmen und Arbeitgeber in vielen Mitgliedstaaten teuer. Und das werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verhindern wissen.

Eine weitere beschäftigungsrelevante Maßnahme, die die gewählte Präsidentin aufgreifen möchte, ist die Fortführung der EU-Jugendgarantie, eines Programms, das EU-Mittel bereitstellt, um jungen Menschen den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt zu erleichtern und sie zügig in eine Beschäftigung, Praktikumsstelle oder Weiterbildungsmaßnahme zu vermitteln. Sie soll aufgestockt und verstetigt werden. Zudem will sie eine europäische Rückversicherung ins Leben rufen, die die nationalen Arbeitslosenversicherungen in Krisenzeiten finanziell entlasten soll. Auch hier war es Juncker, der eine ähnliche Idee schon vor Jahren in die Debatte gab. Bislang ohne Erfolg. Aus Angst vor politischen Fehlanreizen, z. B. der Verzögerung von Strukturreformen, die ein solcher EU-Fonds – europäisch administriert – für Mitgliedstaaten mit Not leidenden nationalen Arbeitslosenversicherungen setzen könnte, lehnen mehrere Länder Nord- und Mitteleuropas eine solche Initiative ab. Es wird viel Verhandlungsgeschick erfordern, um die nötigen Mehrheiten hier zu gewinnen.

Ein für die künftige Chefin der EU-Kommission erklärtermaßen wichtiges Thema ist die Verwirklichung der Gleichbehandlung. Sie versteht Gleichbehandlung als eine elementare Voraussetzung für Chancengleichheit. Aus ihrer Sicht ist es unabdingbar, dass wir für Gleichheit und Chancen für alle sorgen müssen, um das volle Potenzial unserer Stärken, Talente, Kompetenzen und auch unserer Vielfalt auszuschöpfen. Ohne dies könnten wir die gesteckten Ziele nicht erreichen. Für mehr Gleichbehandlung will sie bis Februar 2020 Maßnahmen zur Einführung von EU-Regelungen für Lohntransparenz vorschlagen. Auch möchte sie die Verhandlungen über eine EU-Richtlinie zur Förderung von Frauen in Führungspositionen wieder "in Gang bringen" sowie eine seit Jahren ausstehende EU-Gleichstellungsstrategie vorlegen. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, plant die künftige Kommissionschefin, ihr Gremium zur gleichen Zahl mit Männern und Frauen zu besetzen. Das wird die erste sichtbare Bewährungsprobe. Die Personalvorschläge machen die Mitgliedstaaten. Sie erfüllen die Paritätsanforderung derzeit noch nicht. Bis Ende August sind Nominierungen von Kandidatinnen und Kandidaten möglich, die Frau von der Leyen dann als potentielle Mitglieder ihrer Kommission genauer prüft – auch mit Blick auf die Geschlechterparität. Sie hat bereits angekündigt, weitere Namen einzufordern, solange die Parität nicht erreicht ist. Im zweiten Schritt muss das Europäische Parlament (EP) seine Zustimmung zur neuen Kommission geben. Es ist davon auszugehen, dass das EP alle Personalvorschläge sehr sorgfältig erwägen wird, nachdem ihm die Besetzung der Kommissionsspitze nach dem Spitzenkandidatenprinzip verwehrt geblieben ist. Auf der Grundlage der Zustimmung des EP wird die EU-Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit dann letztlich ernannt und voraussichtlich am 1. November 2019 ihre Arbeit aufnehmen.

Weitaus weniger ehrgeizig sind die Ankündigungen Frau von der Leyens bei der Umsetzung der Europäischen Säule im Bereich Sozialschutz und soziale Eingliederung. Maßgebliches Vorhaben in diesem Politikfeld soll der Vorschlag einer "Europäischen Kindergarantie" werden, um Kinderarmut zu bekämpfen. Die EU-Kommission lässt hierfür aktuell eine Machbarkeitsstudie erstellen, deren Ergebnisse im Frühjahr 2020 vorliegen sollen. Die künftige Präsidentin möchte mit EU-Mitteln (ähnlich der EU-Jugendgarantie) den Zugang für arme bzw. armutsgefährdete Kinder zu kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung unterstützen. Das Konzept stammt ursprünglich vom EP, welches allerdings auch die Förderung des Zugangs zu kostenloser frühkindlicher Bildung und Betreuung, angemessenem Wohnraum und angemessener Ernährung für benachteiligte Familien vorsah. Für Gesprächsstoff mit den Abgeordneten dürfte also gesorgt sein. Weitere sozialpolitische Ziele der Europäischen Säule werden von der gewählten Kommissionspräsidentin in ihrer Vision von Europa leider nicht aufgegriffen, z. B. europäische Rahmenbedingungen für Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Mindesteinkommen, Rente, Langzeitpflege, Hilfe für Wohnungslose, Zugang zu essentiellen Dienstleistungen oder auch zum Bedarf an einer neuen Behindertenstrategie der EU. Der Deutsche Verein hat sich in seinen Erwartungen an die EU anlässlich der Europawahl für die konsequente Weiterführung der Europäischen Säule durch die neue EU-Kommission ausgesprochen. Das Bekenntnis zur weiteren Umsetzung der Säule ist insofern sehr erfreulich. Frau von der Leyen verkürzt die Agenda der Europäischen Säule jedoch stark auf Teilbereiche. Das wird nicht reichen, um den Herausforderungen durch neue Technologien, demografische Veränderungen und das Klima, die sie selbst als die wichtigsten Treiber des Wandels benennt, gerecht zu werden und das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell so zu gestalten, "dass Europa noch mehr erreicht, wenn es um soziale Gerechtigkeit und Wohlstand geht".

Die vorgestellten Leitlinien werden die Grundlage für das Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2020 bilden, mit dem Ende des Jahres zu rechnen ist. Sie sollen zudem in die Beratungen mit dem EP und dem Rat einfließen, mit denen die EU-Kommission ein "Mehrjähriges Programm" für die Zeit ab 2021 vereinbaren möchte. Und sie werden Gegenstand des von Frau von der Leyen angekündigten breit angelegten Bürgerdialogs zur Reform Europas sein, aus dem wichtige Vorschläge für die weitere Kommissionsarbeit aufgegriffen werden sollen. Letztlich stehen die angekündigten Vorschläge unter dem Vorbehalt der Finanzierung. Der mittelfristige Haushaltsplan der EU ab 2021 bis 2027 und damit die Obergrenzen für die künftigen Ausgaben der EU insgesamt und die politischen Prioritäten werden seit gut einem Jahr verhandelt. Sie müssen einstimmig von den Mitgliedstaaten verabschiedet werden. Sowohl in Hinblick auf die Gesamthöhe als auch auf die Schwerpunktsetzung innerhalb des Finanzrahmens besteht noch sehr viel Beratungsbedarf, sodass mit einem Ergebnis im ungünstigen Falle erst im Herbst 2020 zu rechnen ist. Wie verlässlich angesichts dieser Perspektive die ambitionierten Ankündigungen der gewählten EU-Kommissionspräsidentin sind, ist völlig offen. Und dann kommt noch hinzu, dass sie für viele der Vorhaben Mehrheiten im Europäischen Parlament und im Rat benötigt. Es bleibt zu hoffen, dass sie das "Wir-Gefühl" aus ihrer Bewerbungsrede auch in den Verhandlungen hervorrufen kann, um tatsächlich gemeinsam in Europa voranzuschreiten.

Zur Autorin

Bild von Cornelia MarkowskiCornelia Markowski ist als Leiterin der Stabsstelle Internationales tätig.

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