Page 48 - NDV 08/2021
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 LESENSWERT NDV 8/2021 selte Wieking in die Hauptstadt Berlin, um dort beim „Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend in Berlin“ als Gefähr- detenfürsorgerin im Bezirk Charlotten- burg und Schöneberg zu arbeiten (von 1915 bis 1918). Wieking befand sich nun im Zentrum der bürgerlichen Frauen- bewegung, mit deren Werten sie sym- pathisierte. Gleichzeitig baute sie sich ein Netzwerk gleichgesinnter Frauen auf. Dank der Zurverfügungstellung privater Dokumente und Fotografien der Fami- lie Wieking und unter Einbindung in die regionale und überregionale Geschichte wird hier ein umfassendes Bild der ers- ten Lebensjahrzehnte und ihrer Soziali- sation gegeben. Das zweite Kapitel, das zeitlich die „Wei- marer Republik“ von 1918 bis 1933 um- fasst, gliedert sich in elf Unterkapitel. Hier werden nicht nur ihr weiterer beruflicher Werdegang bis hin zur ers- ten Polizeirätin Deutschlands (Kap. 2.8), sondern auch ihr ehrenamtliches Enga- gement u.a. als Vorsitzende im Verband der Deutschen Sozialbeamtinnen wie auch ihr Engagement beim Aufbau der weiblichen Kriminalpolizei bzw. ihre In- itiativen zum Einbringen verschiedener Gesetze beschrieben. Von 1918 bis 1921 arbeitete sie als Polizei- fürsorgerin in Stettin, insbesondere widmete sie sich der Problematik der Prostitution in dieser Zeit. Zum 1. Ja- nuar 1922 wurde Wieking von der Stadt Berlin berufen, als leitende Fürsorge- rin das amtliche Pflegeamt im Polizei- präsidium aufzubauen. Mit zahlreichen Quellen belegt, wird hier einerseits die soziale Lage der Großstadt Berlin sowie der lange Kampf von Wieking gegen die männlichen Kollegen und sonsti- gen Widerstände zur Etablierung und zum Aufbau der weiblichen Kriminal- polizei geschildert. Äußerst aufschluss- reich hat der Autor die „internationale Einbindung der Frau im Polizeiwesen“ dargelegt und die Vernetzung zwischen den verschiedenen Frauen der Frauen- bewegung, den Vertreterinnen der Berufsverbände und den politischen Parteien dargelegt, die die Gesetzeslage der 1920er-Jahre, die historischen-so- zialen Hintergründe sowie die ethische Haltung der damaligen Zeit verdeut- licht. „Es wird immer große Gebiete für die Polizei geben, wo die reine Männer- welt am Platz ist. Aber die Grenzen lie- gen da, wo das Objekt der Tätigkeit ein hilfsbedürfiger, fürsorgebedürfiger oder minderwertiger Mensch ist, also wo menschenerzieherische, pädago- gische Gesichtspunkte von vornherein neben polizeilichen im Vordergrund stehen. Da wollen wir Frauen ansetzen.“ (Regierungsrätin Dr. Anna Mayer, siehe Groß, S. 178). Ein wesentliches Ziel von Wieking war es hier, die Frau als Polizei- beamtin im Polizeiwesen zu integrie- ren und zu etablieren. Nach außen hin war ihr Fokus auf die Bekämpfung der Prostitution und der Geschlechtskrank- heiten gerichtet, weshalb sie sich auch im Aus- und Aufbau der Gefährdetenfür- sorge engagierte. Dies mündete schließ- lich zu der Ernennung von Wieking zur ersten Polizeirätin in Deutschland. Anschaulich schildert der Autor auch den Alltag der Berliner Kriminalpolizei zwischen 1927 und 1933 u.a. an Hand der „Steglitzer Schülertragödie“ (S. 193–233). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass gerade die aktu- elle Krimi-Literatur, allen voran Volker Kutscher, sich verstärkt auch der weib- lichen Kriminalpolizei in der Weima- rer Republik widmet (Volker Kutscher: Märzgefallene, Köln 2016, S. 91, hier sogar Hinweis auf Friederike Wieking, oder Beate Sauer: Der Hunger der Le- benden, Köln 2019). Unter dem Titel „Zeitenwende – Himmlers Kriminalistin“ wird im dritten Kapitel der Biografie Friederike Wiekings weiterer beruflicher Werdegang unter den Nationalsozialisten und ihre Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus erläutert. Disziplin, Gehorsam, Pflicht- bewusstsein, insbesondere Anpassungs- fähigkeit gegenüber den neuen Macht- habern zahlten sich schließlich aus. Alles Tun und Handeln war nunmehr „in erster Linie auf das Volksganze aus- gerichtet“ (S. 262). Die verstärkte Be- kämpfung der Jugendkriminalität und Prostitution (die Wurzeln dazu waren bereits in der Weimarer Republik ge- legt worden) und die Ausrichtung auf die „Pflege einer gesunden deutschen Volksgemeinschaf“ führten nach und nach zur Umstrukturierung der weib- lichen Kriminalpolizei unter Leitung von Friederike Wieking, die nun den Schwer- punkt auf kriminalpolizeiliche Tätig- keiten verlagerte. Die erstmalige Veröfentlichung und die Auswertung einer Vielzahl von Quellen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 ist vor allem das große Verdienst dieser Biografie. Ausführlich werden die Hal- tungen und Verstrickungen von Friede- rike Wieking in das herrschende System gezeigt, in dem Himmler sie zur Regie- rungs- und Kriminaldirektorin ernannte. Dies beinhaltete auch die Leitung von Jugendkonzentrationslagern, insbe- sondere des Jugend-KZs Uckermark in Ravensbrück, die beschönigend als „Jugendschutzlager“ deklariert wur- den. Diese wurden als „polizeiliche Erziehungslager“ zur Internierung kri- mineller und sittlich verwahrloster Jugendlicher errichtet. Ausführlich wird die Tätigkeit von Wieking, insbesondere ihre Beteiligung und Verantwortung am Holocaust geschildert (S. 297–331). Im vierten Kapitel werden relativ knapp auf 15 Seiten die 13 letzten Lebensjahre von Friederike Wieking geschildert, die u.a. aus fünf Jahren Haf in sowjetischer Gefangenschaf bestanden. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1958 legte Wieking jegliche Verantwortung an den Gräueltaten der Nationalsozialisten ab. Auch ihre Veröfentlichung „Die Ent- wicklung der weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart“ trug dazu bei, dass das Bild der weiblichen Kriminalpolizei über Jahrzehnte nur positiv bewertet wurde. 432 


































































































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