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 NDV 12/2021
IM FOKUS
cheln: Wie soll das gehen, wenn anderes viel dringender er- scheint?
1.2 Mitarbeitende
Die Sicht der Mitarbeitenden ist nicht viel anders: Sie erle- ben täglich Krisensituationen in hochbelasteten Familien. Sie schlagen sich auf veralteten PCs mit unpraktikablen Fachan- wendungen und Kostenleistungsrechnungen herum. Unbe- setzte Stellen und viele Langzeiterkrankte lassen die Fallraten in die Höhe schnellen. Neu eingestellte Sozialarbeiter/innen können kaum eingearbeitet werden. Homeoffice und Work- Life-Balance sind Fremdwörter. Uns begegnen in den Jugend- ämtern eine hohe Fachkompetenz und ein großes Engage- ment. Aber: Der Anspruch, Menschen helfen zu können, mit dem Absolvent/innen im Jugendamt ihre Arbeit aufnehmen, zerschellt allzu häufig an den Klippen der Realität.
1.3 Leistungsempfänger/innen
Wir haben exemplarische Interviews mit Familien geführt, die für ihr behindertes Kind Eingliederungsleistungen bean- tragt haben. Die Ergebnisse sind frappierend: Fast alle Fami- lien erleben (je nach Zuständigkeit) das Jugend- oder Sozial- amt ausschließlich als ein Gegenüber, das es darauf anlegt, Hilfen zu verweigern. Sie sehen sich in der Rolle, immer wie- der neu eine Flut von Papieren ausfüllen zu müssen, um ih- nen zustehende Leistungen zu beantragen, die dann entwe- der nicht oder nur nach erheblichem Drängen und Verweis auf rechtliche Schritte bewilligt werden (vgl. auch Müller-Fehling 2021, 38). Nahezu keine der Leistungsberechtigten erhielt eine Beratung dahingehend, welche Hilfen es gibt, welche Leistun- gen für das jeweilige Kind passen und helfen können oder wo und wie diese zu beantragen sind. Das Amt erscheint diesen Familien nicht als Leistungsträger, sondern als Leistungsver- weigerer – ein Begriff, den wir eher von schulmüden Jugendli- chen kennen. Zugleich bemängeln Eltern, dass Sozialarbeiter/ innen wenig Verständnis für ihre Lebenssituation haben. Sie fühlen sich wenig angenommen und nicht als Expert/innen für die Bedürfnisse ihres Kindes angesehen (vgl. auch Horn 2020, 24).
Aber: Es gibt durchweg eine große Zufriedenheit mit der Um- setzung der Hilfen, die schließlich bewilligt werden. Qualität, Sozialräumlichkeit, Vielfältigkeit des Angebotes, Geschwin- digkeit der Umsetzung und Fachlichkeit des Personals wer- den von den Leistungsberechtigten und ihren Familien sehr geschätzt. Lediglich, dass es für einige Teilhabeleistungen wie Schulhelfer/innen oder Einzelfallhilfe lange Wartezeiten gibt, wird bemängelt. Hier gibt es nicht genügend Anbieter auf dem Markt – was nicht zuletzt an der mangelnden finanziellen At-
traktivität dieser Leistungen für die Erbringer liegt. Absurder- weise sind Fachleistungsstunden in der Eingliederungshilfe weit schlechter finanziert als in der Jugendhilfe, die Anforde- rung an die Qualifizierung der Fachkräfte ist geringer und Su- pervision, interne Teambesprechungen und Fortbildung sind nicht ausreichend eingepreist. Die UN-Behindertenrechtskon- vention scheint hier nur auf dem Papier zu existieren.
Übrigens: Das Jugendamt Nordfriesland hat die Steuerung für die beiden Töpfe für SGB VIII- und SGB IX-Leistungen zu- sammengelegt und zahlt Hilfen jetzt schon, wie vom Gesetz- geber zukünftig vorgegeben, aus einer Hand. Und zwar lokal, aus sehr kleinräumlich organisierten Standorten des Jugend- amts und in enger Kooperation mit den Leistungserbringern. Es kann also gehen, wenn die zuständigen Stellen kommuni- zieren und sich gemeinsam der Sache verschreiben.
2. Das Jugendamt muss dicke Bretter bohren – und zwar einige.
Ganz unabhängig vom neuen KJSG stehen für die öffentliche Jugendhilfe in den nächsten Jahren vier dicke Bretter an:
1) Die Digitalisierung ist kein hübsches Sahnehäubchen, son- dern durch das Online-Zugangsgesetz für jede Verwaltung verpflichtend. Für die öffentliche Jugendhilfe bedeutet sie mindestens die Einführung der eAkte, die Einführung di- gitaler Antragsmöglichkeiten und Kund/innenportale, die Ansprache von und Kommunikation mit Kindern, Jugend- lichen und Familien auch auf digitalem Wege und die Aus- stattung der Mitarbeitenden mit modernen – mobilen – Endgeräten. Barrierefreiheit kann und muss hier gleich mitgedacht werden. Das erfordert Investitionen.
2) Ein Paradigmenwechsel von der in absoluten Notlagen zu- ständigen Feuerwehr hin zur präventiven und sozialräum- lichen Arbeit verhindert explodierende Kosten. Es müssen frühzeitige, niedrigschwellige und sozialräumliche Zugän- ge zum Jugendamt geschaffen werden, die für Kinder, Ju- gendliche und Familien lebensnahe und praktische Unter- stützung bieten – und zwar bevor die Not so groß ist, dass nur noch sehr starke und damit teure Interventionen tra- gen. Lebensphasenbezogene, nahtlose Präventionsketten müssen etabliert werden.
3) Mitarbeitende müssen gewonnen und gehalten werden. Dafür braucht es eine gelingende Einarbeitung, schlanke, digitalisierte und attraktive Prozesse und ein Retention- Management, das neben der monetären Bezahlung auch Zeit und Sinn als attraktive Währungen mitdenkt.
4) Die freien Träger der Jugendhilfe müssen eingebunden und mitgedacht werden. Sie als einen – klug zu steuern- den – Strang der eigenen Aufbaustruktur mitzudenken, er-
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