Page 8 - Nachrichtendienst NDV 12/2021
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 IM FOKUS
NDV 12/2021
▶ Sie brauchen im Jugendamt Mitarbeitende, die sich in ihre sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten hineinverset- zen und ihre umfassenden rechtlichen Ansprüche kennen und umsetzen können.
All das erfordert eine Qualifizierung der Mitarbeitenden und eine gemeinsame Kultur, die Familien mit einem behinder- ten Kind willkommen heißt und stets im Blick hat. Zugleich braucht es eine organisationale Struktur, gelingende Prozes- se und entsprechende Steuerungsmöglichkeiten, um die An- forderungen des KJSG und damit der UN-Behindertenrechts- konvention umzusetzen. Die Herausforderung ist enorm. Ein detaillierter Blick darauf, wie Jugendämter derzeit aufgestellt sind und welche fachlichen und organisationalen Weiterent- wicklungen erfolgen müssen, zeigt frappierend, wie groß der Nachbesserungsbedarf ist.
1. Alle Beteiligten sind unzufrieden.
Wenn man sich umschaut in der Landschaft, sind eigentlich alle, die tagtäglich mit Eingliederungsleistungen zu tun haben, höchst unzufrieden – wenn auch aus unterschiedlichen Pers- pektiven.
1.1 Jugendamtsleitungen
„Das Jugendamt“ gibt es nicht – stattdessen findet sich quer durch die Republik eine große Vielfalt an Größen, Strukturen und fachlichen Konzepten. Auch die strukturelle Verortung von Teilhabeleistungen ist unterschiedlich gelöst: Die meisten Jugendämter leisten Hilfen nach § 35a SGB VIII für junge Men- schen mit (drohender) seelischer Behinderung, während die Eingliederungsleistungen für junge Menschen mit einer geisti- gen oder körperlichen Behinderung nach SGB IX im Sozialamt angesiedelt sind. Einige haben hingegen alle Eingliederungs- hilfen für junge Menschen vollständig an das Sozialamt abge- geben, andere haben neben Sozial- und Jugendamt ein eige- nes Amt gegründet und bieten hier alle Teilhabeleistungen in einem „Haus der Teilhabe“ an, und wieder andere haben alle Eingliederungshilfen nach SGB VIII und IX unter dem Dach des Jugendamtes angesiedelt.
Zugleich eint alle Jugendämter ein erheblicher Personal- und Kostendruck: Es gibt landesweit eine große Personalnot, eine hohe Personalfluktuation und damit verbunden erhebliche Schwierigkeiten bei Personalgewinnung und -einarbeitung. Zugleich stehen die Jugendämter vor stetig steigenden Kos- ten in den Hilfen (Hilfen zur Erziehung ebenso wie Hilfen zur Teilhabe) und damit im ständigen Rechtfertigungsdruck ge- genüber der Politik. In der Konsequenz müssen sich die Ju- gendämter der Herausforderung stellen, mit wenig Personal
und entsprechend hohen Fallzahlen dennoch gute Beratung zu leisten, Hilfen und Leistungserbringer frühzeitig und effi- zient zu steuern und Prozesse so zu gestalten, dass Mitarbei- tende mit möglichst wenig Zeitaufwand und ohne Reibungs- verluste gute Arbeit leisten können. Hier erleben wir übrigens erhebliches Potenzial: Viele regelhaft stattfindende Prozesse sind historisch gewachsen und seit Jahren nicht strategisch angefasst. Fallakten werden mehrfach angelegt und dafür händisch kopiert. Begutachtungen werden regelhaft angefor- dert, ohne die Notwendigkeit zu prüfen. Interne Zuständigkei- ten und Rollen sind unklar und Arbeit wird doppelt geleistet. Eine Verschlankung der Prozesse und eine klare Abgrenzung von Rollen und Verantwortlichkeiten ist dringend geboten.
Die ständige Mittelknappheit hat auch dazu geführt, dass es einen erheblichen Reformstau gibt: Die meisten städtischen und Kreisjugendämter und ebenso die Landesjugendäm- ter haben seit vielen Jahren ihre Strukturen und Prozesse im- mer nur notgedrungen und eher oberflächlich neuen gesetz- lichen Anforderungen angepasst. Diese kleinen, aber ständi- gen Umstrukturierungen nehmen jedoch nie das große Ganze in den Blick und befähigen die öffentliche Jugendhilfe nicht, aus dem Re-Aktionsmodus in einen strukturellen Aktionsmo- dus zu gelangen. Und schlimmer: Die vielen kleineren und größeren Nachjustierungen arbeiten bisweilen sogar gegenei- nander, da sie häufig wenig koordiniert und nicht mit Blick auf eine integrierte Gesamtstrategie des Jugendamtes erfolgen. So werden Abläufe und Verfahren und entsprechend auch der Ressourceneinsatz (Zeit und Geld) unübersichtlich und zuneh- mend schwerer steuerbar.
In der Praxis erleben wir Jugendämter, die seit 15 Jahren in unterschiedlichsten Notmodellen arbeiten. An jeder Ecke wird gespart: Kinderschutzfälle werden bearbeitet, vieles ande- re nicht oder nur marginal. Familien werden nicht oder kaum beraten. Langjährige Mitarbeitende gehen in den Ruhestand, ohne dass es einen Wissenstransfer gibt. Kommunale Netz- werke zu freien Jugendhilfeträgern und anderen Verwaltun- gen werden nicht gepflegt. Interne und externe Schnittstellen sind vernachlässigt. Die Sozialraumorientierung steht zwar in jedem Fachkonzept, ist aber oft nur mehr schemenhaft zu er- kennen. Die Einführung der eAkte wird aus Kostengründen immer wieder aufgeschoben. Und trotz all dieser Einsparun- gen stehen Jugendamtsleitungen alljährlich vor dem Jugend- hilfeausschuss und der Stadt-/Kreisverwaltung und müssen steigende Kosten rechtfertigen. Eine der Ursachen ist ihre – scheinbar – schwindende Steuerungsmöglichkeit: Steuerung geschieht nur im Nachhinein. Fach- und Finanzcontrolling und Jugendhilfeplanung sind vielfach rein reaktiv ausgerich- tet. Der Gedanke an digitalisierte Antragsformulare, eine barri- erefreie Webseite, schnelle Bewilligungsprozesse oder gar an ein inklusives Jugendamt lässt Leitungskräfte da nur müde lä-
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