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 NDV 12/2021
AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
griffen werden könnten.16 Vereinzelt wird mit Bezügen zum Unionsrecht argumentiert.17
Demgegenüber äußern einzelne Landessozialgerichte im vor- läufigen Rechtsschutz Bedenken18 bzw. erhebliche Beden- ken,19 ob die Leistungsausschlüsse verfassungskonform sei- en, wobei die rechtliche Festlegung dem Hauptsacheverfah- ren überlassen bleibe. Die Gesetzesbegründung stelle auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat ab, weil sich alle Mitgliedstaaten gemäß Art. 13 der Europäischen Sozial- charta zu auseichender sozialer Unterstützung verpflichtet hätten.20 Damit aber werde „ein vertraglich vorgesehener Zu- stand (...) ohne Beleg mit einem tatsächlich in allen Mitglieds- staaten bestehenden Zustand gleichgesetzt“.21 Auch würden EU-Bürger „leistungsrechtlich schlechter stehen als Leistungs- berechtigte nach dem AsylbLG, wenn sie im Gegensatz zu die- sen nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind“.22 Zuletzt habe das BSG einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwür- digen Existenzminimums unmittelbar kraft Verfassungsrechts bestätigt, der auch für die Neuregelung seit Dezember 2016 gelte.23 Die skeptischen Stimmen in der LSG-Rechtsprechung reihen sich ein in zahlreiche weitere kritische Argumente in der Literatur, die hier aus Platzgründen nicht vertieft werden.24
4.1.2 Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3
SGB XII trotz Leistungsausschluss?
Weitgehende Einigkeit besteht, dass Personen, die von den Leistungsausschlüssen des § 23 Abs. 3 SGB XII betroffen sind, nur Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3 und 5, ggf. ergänzt um Härtefallleistungen nach Satz 6 SGB XII, haben. Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kämen nach der Rechtsänderung von 2016 nicht mehr infrage.25 Der Wortlaut von § 23 Abs. 3 Satz 1 beziehe sich auf Absatz 1 und damit auch auf die Ermessensleistungen nach dessen Satz 3.26 Zudem dürften Gerichte sich nicht über den Wortlaut hinwegsetzen, sondern müssten bei verfassungs- rechtlichen Bedenken den Weg der konkreten Normenkont- rolle gemäß Art. 100 GG suchen.27 Im Übrigen stelle dies die Begründung klar.28 In der Tat ging es 2016 gerade darum, dass der Gesetzgeber der vorherigen Rechtsprechung des BSG, wo- nach auch bei Leistungsausschlüssen im SGB II Ermessens- leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII gewährt werden könnten bzw. müssten,29 entgegentreten wollte.30
4.1.3 Angehörige von EFA-Staaten
Strittig ist, ob die Leistungsausschlüsse für Angehörige von Mitgliedstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) von 195331 für § 23 SGB XII in der ab Dezember 2016 gelten- den Form gelten. Halten sich Angehörige von EFA-Mitglied- staaten gemäß Art. 11 EFA erlaubt in einem Mitgliedstaat auf,
16 LSG München, Beschluss vom 2. August 2017, L 8 SO 130/17 B ER, Rdnr. 57; LSG München, Beschluss vom 24. April 2017, L 8 SO 77/17 B ER, Rdnr. 138; LSG Darmstadt, Urteil vom 1. Juli 2020, L 4 SO 120/18, Rdnr. 66; LSG Darmstadt, Beschluss vom 29. Juni 2020, L 4 SO 91/20 B ER, Rdnr. 76; LSG Darmstadt, Beschluss vom 13. Juni 2017, L 4 SO 79/17, Rdnrn. 12 ff; LSG Darmstadt, Beschluss vom 27. März 2019, L 7 AS 27/19 B, Rdnrn. 10 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019, L 15 SO 181/18, Rdnrn. 55 ff.; LSG Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017, L 4 SO 55/17 B ER, Rdnr. 9.
17 LSG Essen, Beschluss vom 5. August 2017, L 6 AS 783/17 B ER, Rdnrn. 39 f.; LSG Essen, Beschluss vom 1. August 2017, L 6 AS 575/17 B ER, Rdnrn. 37–40.
18 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017, L 15 SO 104/17 B ER, L 15 SO 105/17 B ER PKH, Rdnr. 20 i.V.m. 29; LSG Essen, Beschluss vom 28. Januar
2018, L 7 AS 2299/17 B, Rdnrn. 14 f.
19 LSG Celle, Beschluss vom 16. Februar 2017, L 8 SO 344/16 B ER, Rdnr. 33; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2019, L 18 AS 141/19 B ER, L 18
AS 142/19 B ER PKH Rdnr. 5; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. November 2017, L 18 AS 2172/17 B ER, Rdnr. 5; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 7. Juni 2018, L 18 AS 884/18 B ER, Rdnr. 5.
20 BT-Drucks. 18/10211, S. 14.
21 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017, L 15 SO 104/17 B ER, L 15 SO 105/17 B ER PKH, Rdnr. 20.
22 LSG Berlin-Brandenburg (Fußn. 21), Rdnr. 20.
23 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2019, L 18 AS 141/19 B ER, L 18 AS 142/19 B ER PKH, Rdnr. 5, unter Verweis auf Urteil vom 3. Dezember
2015, B 4 AS 59/13 R.
24 Nachweise bei Löhr (2021), Rdnr. 47; siehe auch Berlit (2017), S. 69–72 f.; zur Bedeutung der sog. Sanktionsentscheidung des BVerfG, Urteil vom 5. November
2019, 1 BvL 7/16, für die hier diskutierte Frage siehe Frings (2021).
25 LSG Essen, Beschluss vom 5. Juli 2017, L 9 SO 213/17 B ER, L 9 SO 314/17 B, Rdnr. 8; LSG Essen, Beschluss vom 26. Februar 2018, L 19 AS 249/18 B ER,
Rdnr. 33; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019, L 23 S= 279/18 B ER, Rdnr. 26 i.V.m. 23; LSG Essen, Beschluss vom 31. August 2017, L 20 SO 319/17 B ER, L 20 SO 320/17 B, Rdnr. 40; unter allgemeinem Bezug auf das Dritte Kapitel LSG Darmstadt, Urteil vom 1. Juli 2020, L 4 SO 120/18, Rdnr. 72; LSG Celle, Beschluss vom 22. Mai 2018, L 11 AS 1013/17 B ER, Rdnr. 35; LSG Halle, Beschluss vom 4. Juli 2019, RL 4 AS 246/19 B ER, Rdnrn. 34–38; LSG Halle, Beschluss vom 21. September 2017, L 2 AS 575/17 B ER, Rdnr. 64; LSG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2018, L 7 SO 4027/18 ER-B, Rdnr. 38.
26 LSG Essen, Beschluss vom 31. August 2017, L 20 SO 319/17 B ER, L 20 SO 320/17 B, Rdnr. 40.
27 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019, L 23 S 279/18 B ER, Rdnr. 23; LSG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2018, L 7 SO 4027/18 ER-B,
Rdnr. 38.
28 LSG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2018, L 7 SO 4027/18 ER-B, Rdnr. 38.
29 BSG, Urteil vom 5. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R, Rdnrn. 51 ff.
30 BT-Drucks. 18/10211, S. 1 f. und S. 16.
31 BGBl. I 1956 S. 563.
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