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 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
NDV 12/2021
ge der EuGH-Rechtsprechung4 weitgehend dem Diskussions- stand in der Literatur.5 Diese Einschätzung bezieht sich auf den aktuellen Stand des § 23 SGB XII – ein zwischen 2016 und 2020 geltender, unionsrechtlich von Beginn an kritisierter6 Aus- schluss von Personen, die ihr Aufenthaltsrecht aus dem Schul- besuch ihrer Kinder ableiten, ist in Reaktion auf ein EuGH-Ur- teil zwischenzeitig aufgehoben worden.7
Zur Verfassungskonformität von § 23 SGB XII hat sich das BVerfG noch nicht vertieft geäußert. Allerdings hat es die Un- zulässigkeit einer abgewiesenen Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG damit begründet, dass das vorlegende Gericht die verfassungskonforme Auslegung hätte prüfen müssen.8 An- schließend betont es, § 23 SGB XII enthalte „eine Öffnungs- klausel, die in Ausnahmefällen der Behörde Spielräume er- öffnet, um Härten im Einzelfall aufzufangen“.9 Damit ist das Erfordernis einer verfassungskonformen Auslegung der Härte- fallklausel gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII zumindest knapp benannt.
Erste Hinweise auf Kriterien für einen Härtefall finden sich in einer weiteren als unzulässig abgelehnten Richtervorlage. Das BVerfG betonte in einem obiter dictum:10 Es bedürfe nicht mehr der Entscheidung, „inwiefern nicht im Einzelfall konkre- te Bindungen an das Bundesgebiet ‒ (...) etwa wegen ihres
schwerbehinderten Sohnes, der in Deutschland in einer Werk- statt für behinderte Menschen betreut wird ‒ angesichts feh- lender Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht die Annahme einer besonderen Härte rechtfertigen können“.11
In einer dritten Entscheidung stellt das BVerfG fest, dass Pro- zesskostenhilfe hätte gewährt werden müssen. Denn ob § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII verfassungskonform sei, sei eine schwierige und ungeklärte Rechtsfrage. Sie lasse sich nicht ohne Weiteres aus der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG beantworten.12
Die wohl überwiegende Mehrheit der Landessozialgerichte geht, überwiegend in Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz, von Verfassungskonformität aus.13 Zwei Argumente stehen im Vordergrund: Zum einen wird auf den Nachranggrundsatz ver- wiesen. Unionsbürgerinnen und -bürgern sei es möglich, in ih- ren Herkunftsstaat zurückzukehren, um den Bezug von Leis- tungen in Deutschland zu vermeiden und gegebenenfalls Hil- fe im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen.14 Zum anderen wird – nicht durchgehend15 – auf die Überbrückungsleistun- gen und eine verfassungskonforme Auslegung der Härtefall- klausel verwiesen, mit der individuelle Bedarfe zur Gewähr- leistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aufge-
 4 EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Rs. C-333, Dano; Urteil vom 15. September 2015, Rs. C-67/14, Alimanovic; Urteil vom 25. Februar 2016, Rs. 299/14, Garcia Nieto.
5 Literaturnachweise bei Löhr (2021), Rdnr. 46; s. auch Berlit (2017), S. 68 f.
6 Berlit (2017), S. 69.
7 BGBl. I. 2020, S. 2885 (2859) in Reaktion auf EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2020, Rs. C-181-19, Jobcenter Krefeld.
8 BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019, 1 BvL 4/16, Rdnrn. 18 f.
9 BVerfG (Fußn. 8), Rdnr. 18.
10 Hiermit äußern Gerichte gelegentlich eine Rechtsauffassung, die für die Entscheidung nicht entscheidungserheblich ist.
11 BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2020, 1 BvL 1/20, Rdnr. 19.
12 BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2020, 1 BvR 1246/19, Rdnr. 22.
13 LSG München, Beschluss vom 2. August 2017, L 8 SO 130/17 B ER, Rdnr. 55; LSG München, Beschluss vom 24. April 2017, L 8 SO 77/17 B ER, Rdnr. 36; LSG
Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019, L 15 SO 181/18, Rdnrn. 55 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, Rdnr. 42; LSG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019, L 23 SO 279/18 B ER, Rdnrn. 36 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER, Rdnr. 44; LSG Essen, Beschluss vom 28. September 2017, L 19 AS 1540/17, L 19 AS 1543/17 B, Rdnr. 31; LSG Essen, Beschluss vom 16. März 2017, L 19 AS 190/17 B ER, Rdnrn. 44 f.; LSG Essen, Beschluss vom 21. Juni 2017, L 12 AS 807/17 B ER, Rdnr. 31; LSG Essen, Beschluss vom 5. Juli 2017, L 9 SO 213/17 B ER, Rdnr. 13; LSG Essen, Beschluss vom 5. August 2017, L 6 AS 783/17 B ER, Rdnr. 30; LSG Essen, Beschluss vom 1. August 2017, L 6 AS 575/17 B ER, Rdnr. 30; LSG Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017, L 4 SO 55/17 B ER, Rdnr. 9; LSG Halle, Beschluss vom 4. Juli 2019, L 4 AS 246/19 B ER, Rdnr. 42; LSG Halle, Beschluss vom 19. September 2017, L 8 SO 32/17 B ER, Rdnr. 33; LSG Erfurt, Beschluss vom 1. November 2017, L 4 AS 1225/17 B ER, Rdnr. 24.
14 LSG Essen, Beschluss vom 13. Juli 2017, L 2 AS 890/17 B ER, Rdnr. 24; LSG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2018, L 7 SO 4027/18 ER-B, Rdnrn. 39 ff.; LSG Stuttgart, Beschluss vom 27. November 2019, L 7 SO 3873/19 ER-B, Rdnrn. 15 ff.; LSG Stuttgart, Urteil vom 7. November 2019, L 7 SO 934/19, Rdnrn. 38 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019, L 15 SO 181/18, Rdnr. 54; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019, L 23 SO 279/18 B ER, Rdnr. 36; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER, Rdnrn. 42 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019, L 23 SO 279/18 B ER, Rdnr. 37; LSG Essen, Beschluss vom 5. Juli 2017, L 9 SO 213/17 B ER, Rdnr. 13; LSG Halle, Beschluss vom 4. Juli 2019, L 4 AS 246/19 B ER, Rdnr. 43.
15 Ausdrücklich gegen eine nach Ansicht des Senats zu weitgehende verfassungskonforme Auslegung LSG Stuttgart, Urteil vom 17. April 2019, L 2 SO 1477/18, Rdnrn. 50 ff.
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