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 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
NDV 12/2021
2. SGB II oder SGB XII?
Bei Prüfung möglicher Ansprüche geht der erste Blick ins SGB II: Nach § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII gehen Leistun- gen zur Sicherung des Lebensunterhalts des SGB II denen des SGB XII vor (Spezialitätsgrundsatz) (Berlit 2019, Rdnr. 14). Ha- ben Unionsbürgerinnen und -bürger Anspruch auf SGB II-Leis- tungen, scheiden solche des SGB XII aus.
Es gelten die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 SGB II: Vollendung des 15. Lebensjahrs, Nichterreichen der Al- tersgrenze (Rentenalter), Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit und gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland. Allerdings sind bestimmte Gruppen von Unionsbürgerinnen und -bürgern gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von SGB II-Leistungen ausge- schlossen. Diese Fallgruppen sind deckungsgleich mit denen, die seit 2016 auch im SGB XII gelten. Sie werden unten (3.) er- läutert.
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die vom SGB II ausge- schlossen sind, fallen in den Anwendungsbereich des SGB XII – auch, wenn sie erwerbsfähig sind. Zwar erfolgt die Abgren- zung zwischen SGB II und SGB XII grundsätzlich anhand der Erwerbsfähigkeit: Nach § 21 SGB XII erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige dem Grunde nach leis- tungsberechtigt sind, keine Leistungen nach dem SGB XII. Allerdings greift diese Sperre nicht, wenn Erwerbsfähige we- gen eines Leistungsausschlusses gerade keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen haben.1
3. Grundstruktur des § 23 SGB XII
3.1 Anspruchs- und Ermessensleistungen
§ 23 SGB XII regelt Leistungen für Ausländerinnen und Auslän- der. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII enthält einen Anspruch auf Hil- fe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII), bei Krankheit (§ 48 SGB XII), bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§ 50 SGB XII) sowie zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII). Er ist eingeschränkt, weil er nicht alle SGB XII-Leistungen umfasst. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bleiben die Grundsicherung im Alter und bei Er- werbsminderung nach §§ 41 ff. SGB XII unberührt.
Wer eine Niederlassungserlaubnis oder einen voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt hat, hat nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII einen uneingeschränkten Anspruch auf SGB XII-Leistungen.
Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kann Sozialhilfe im Wege des Ermessens geleistet werden, soweit es im Einzelfall gerecht- fertigt ist. Hierüber können die in § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht genannten Leistungen gewährt werden: Vorbeugende Gesundheitshilfe (§ 47 SGB XII) sowie Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§ 67 SGB XII), zur Famili- enplanung (§ 49 SGB XII), bei Sterilisation (§ 51 SGB XII) und in anderen Lebenslagen (§§ 70 ff. SGB XII).
3.2 Leistungsausschlüsse
Von Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sowie Leistun- gen des Vierten Kapitels (Grundsicherung im Alter und bei Er- werbsminderung) sind ausgeschlossen:
▶ Unionsbürgerinnen und -bürger können sich gemäß § 2 Abs. 5 FreizügG/EU in den ersten drei Monaten des Aufent- halts ohne weitere Voraussetzungen in Deutschland auf- halten. Der Besitz eines Personalausweises oder eines Rei- sepasses reicht. In dieser Phase besteht gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XII ein Leistungsausschluss. Eine Rückaus- nahme gilt für Arbeitnehmerinnen bzw. -nehmer, Selbst- ständige sowie die in § 2 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Personen.2
▶ Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben, sind gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alternative 1 SGB XII ebenfalls von Leistungen ausgeschlossen. „Kein Aufenthaltsrecht“ heißt bei Unionsbürgerinnen und -bür- gern, dass sie nicht freizügigkeitsberechtigt sind. Wer frei- zügigkeitsberechtigt ist, bemisst sich nach § 2 FreizügG/ EU. Dessen verschiedene Tatbestände sind anhand des Unionsrechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auszulegen. Sie sind sehr praxisre- levant, aber auch umfassend ausdiskutiert (ausführlich Dienelt, in: Bergmann/Dienelt 2020, § 2 FreizügG/EU, § 2 Rdnrn. 36–155; Bundesagentur für Arbeit 2020) und wer- den daher hier aus Platzgründen nicht vertieft. Für das Ver- ständnis sei vereinfachend erwähnt, dass mit Blick auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FreizügG/EU in der Praxis oft Abgren- zungsschwierigkeiten bestehen, ob eine im Einzelfall allzu prekäre Erwerbstätigkeit noch ausreicht, um den unions-
1 BSG, Urteil vom 30. August 2018, B 14 AS 31/16 R, Rdnrn. 33 f.; Urteil vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R, Rdnrn. 41 ff. m.w.N.; Urteil vom 30. August 2017, B 14 AS 31/16 R, Rdnr. 33.
2 Fortbestehen der Freizügigkeit bei Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (in den ersten drei Monaten ist wohl nur die unfreiwillige Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Tätigkeit gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 von Bedeutung) sowie Aufnahme einer Ausbildung.
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