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 IM FOKUS
NDV 12/2021
schlossen haben, haben Leistungserbringer daher einen An- spruch aus § 123 Abs. 6 SGB IX auf das vereinbarte Entgelt ge- gen den nach § 98 zuständigen Träger der Eingliederungshilfe. Der Träger der Eingliederungshilfe kann unter keinem denkba- ren Gesichtspunkt berechtigt sein, einen Teil dieses Entgelts einzubehalten, weil eine leistungsberechtigte Person einen Zuschlag nach § 30 SGB XII erhält.
4.3 Wirksame Leistungs- und Vergütungsverein- barungen?
In der gegenwärtigen Situation in Baden-Württemberg beste- hen jedoch große Zweifel daran, dass regelmäßig wirksame Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen bestehen. Denn die „Übergangsvereinbarung” lässt darauf schließen, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle keine Leistungs- und Ver- gütungsvereinbarungen nach § 125 SGB IX geschlossen wur- den. Stattdessen wurden die vormaligen Vereinbarungen nach §§ 75, 76 SGB XII mit geringfügigen Modifikationen fort- geschrieben. Diese wiederum verfehlten nahezu flächende- ckend die Mindestbestandteile, die § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. normierte. U.a. war es in Baden-Württemberg nicht üb- lich, für stationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe und für Förder- und Betreuungsstätten auch nur Personalschlüs- sel, geschweige denn die Qualifikation des Personals oder die Qualität der Leistungen zu vereinbaren. Das BSG hat es in zwei diesbezüglichen Entscheidungen vom 6. Dezember 201832 of- fengelassen, ob solche Leistungsvereinbarungen nichtig sind. Die beiden Urteile dürften jedoch kaum darauf schließen las- sen, dass der 8. Senat die in diesen Verfahren zugrunde lie- genden Leistungsvereinbarungen für wirksam hielt. Hätte er das getan, wäre er auf sehr viel einfacherem und vielleicht auch überzeugendem Weg zu dem Ergebnis gelangt, zu dem er kam. Jedenfalls spricht vieles dafür, Leistungs- und Vergü- tungsvereinbarungen, die als Normverträge gelten,33 nur dann für wirksam zu halten, wenn sie die gesetzlich normierten Min- destanforderungen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit erfüllen. Das würde dazu führen, dass eine Leistungsvereinbarung, die die Mindestbestandteile aus §§ 38 Abs. 1, 125 Abs. 2 SGB IX34 so deutlich verfehlt, wie das in Baden-Württemberg der Regel- fall sein dürfte, nichtig ist.
Besteht keine (wirksame) Leistungs- und Vergütungsverein- barung, ist fraglich, ob ein Anspruch des Leistungserbrin- gers aus § 123 Abs. 6 SGB IX gegen den Träger der Eingliede- rungshilfe entstehen kann. Ein Verwaltungsakt, mit dem eine Sachleistung i.S.v. § 123 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bewilligt wur- de, ist dann ursprünglich rechtswidrig (§§ 44, 45 SGB X), weil es an einer konstitutiven Voraussetzung seiner Rechtmäßig- keit fehlt, § 123 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Der Träger der Eingliede- rungshilfe ist dann verpflichtet, eine (allgemeine) und wohl zweckgebundene (vgl. § 47 Abs. 2 SGB X) Geldleistung (§ 105 SGB IX) zu bewilligen, mit der die leistungsberechtigte Person ihre Schuld aus dem WBVG-Vertrag – soweit diese wirksam zustande gekommen ist – begleichen kann.35 Wenn der Trä- ger der Eingliederungshilfe den rechtswidrigen Verwaltungs- akt zurücknimmt, wozu der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns verpflichtet, besteht kein Anspruch des Leistungserbringer aus § 123 Abs. 6 SGB IX gegen den Trä- ger der Eingliederungshilfe. Nimmt dieser den Verwaltungsakt nicht zurück, müsste entschieden werden, ob die fehlerun- abhängige Wirksamkeit des Verwaltungsaktes so weit reicht, dass dem Leistungserbringer, der nicht Adressat des Verwal- tungsaktes ist, davon insoweit profitiert, als ihm ein Anspruch aus § 123 Abs. 6 SGB IX erwächst. Dagegen spricht wohl die systematische Stellung von § 123 Abs. 6 SGB IX im Vertrags- recht. Bis auf Weiteres dürfte das jedoch eine ungeklärte Frage sein. Wenn der öffentlich-rechtliche Anspruch des Leistungs- erbringers gegen den Träger der Eingliederungshilfe aus § 123 Abs. 6 SGB IX im Fall einer unwirksamen Leistungsvereinba- rung verneint wird, wird es wohl darauf ankommen, welches Entgelt für die Fachleistung der Eingliederungshilfe im WBVG- Vertrag vereinbart ist.36
32 BSG vom 6. Dezember 2018, B 8 SO 9/18 R; BSG vom 6. Dezember 2018, B 8 SO 11/18 R.
33 Rosenow, Roland, in: Fuchs/Ritz/Rosenow (Hrsg.): SGB IX – Kommentar zum Recht behinderter Menschen mit Erläuterungen zum AGG und BGG, 7. Aufl. 2021,
§ 123, Rdnr. 19 ff.
34 Zu den gesetzlichen Mindestbestandteilen der Leistungsvereinbarung siehe Rosenow, Roland, in: Fuchs/Ritz/Rosenow (Hrsg.): SGB IX – Kommentar zum
Recht behinderter Menschen mit Erläuterungen zum AGG und BGG, 7. Aufl. 2021, § 125, Rdnr. 25 ff., Rdnr. 71.
35 Rosenow, Roland, in: Fuchs/Ritz/Rosenow (Hrsg.): SGB IX – Kommentar zum Recht behinderter Menschen mit Erläuterungen zum AGG und BGG, 7. Aufl. 2021,
§ 123, Rdnr. 42 ff.
36 Vgl. BGH vom 12. Mai 2016, III ZR 279/15.
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