Page 21 - NDV 08/2021
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 NDV 8/2021 IM FOKUS Eine Rückkehr in den Heimatstaat, aus dem die Kinder geflo- hen sind, ist jedoch in den allermeisten Fällen aus ver- schiedenen Gründen ebenfalls keine zumutbare Lösung.11 Die für Deutschland vorrangig geltende EU-Verordnung Nr. 2201/2003 (EuEheVO) knüpf vorrangig an den gewöhn- lichen Aufenthalt12 beziehungsweise die Anwesenheit13 des Kindes im Gebiet der Europäischen Union an und verweist an- sonsten auf die nationalen Regelungen des jeweiligen Mit- gliedstaats.14 Auf den ersten Blick bietet jedoch auch das ein- schlägige deutsche Familienverfahrensgesetz (FamFG) keine Lösung für dieses Dilemma. Denn nach § 99 Abs. 1 Satz 1 FamFG sind die deutschen Gerichte grundsätzlich nur dann zuständig, wenn das betrofene Kind Deutsche/r ist oder er/sie seinen/ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Beides trif auf die Kinder der oben beschriebenen Sachver- halte nicht zu. Nach § 99 Abs. 1 Satz 2 FamFG können sich deutsche Gerichte jedoch auch dann für zuständig erklären, wenn ein Kind der Fürsorge durch ein deutsches Gericht bedarf. Hierbei handelt es sich um den entscheidenden Anknüpfungspunkt, der im oben beschriebenen Sachverhalt dazu geführt hat, dass sich das AG Hamburg für zuständig erklärte.15 Die Regelung des § 99 Abs. 1 Satz 2 FamFG soll gewährleisten, dass auch bei einem fehlenden gewöhnlichen Aufenthalt einem Fürsorge- bedürfnis Rechnung getragen werden kann.16 In einem ähnlich gelagerten Fall betrefend den Familiennach- zug eines im Sudan befindlichen eritreischen Kindes zu seinen in Deutschland lebenden Großeltern bestätigte das OLG Hamm17 jedoch die Entscheidung des angerufenen Amts- gerichts, das sich für unzuständig erklärt hatte. Die Antrag- steller in jenem Fall hatten sich ebenfalls darauf berufen, dass sich die Zuständigkeit des Gerichts aus § 99 Abs. 1 Satz 2 FamFG ergebe. Dem OLG Hamm zufolge sei die Vorschrif je- doch dahingehend auszulegen, dass sie beispielsweise Fälle einer bloßen Anwesenheit eines Kindes erfasse, bei der es sich (noch) nicht um einen gewöhnlichen Aufenthalt handele. Denkbar seien daneben auch andere Konstellationen, jeden- falls empfehle sich aber schon zur Vermeidung sich wider- sprechender und im Heimat- oder Aufenthaltsstaat des Kindes nicht anerkennungsfähiger Entscheidungen eine zurück- haltende Beurteilung des Fürsorgebedürfnisses. Eine solche Auslegung des § 99 Abs. 1 Satz 2 FamFG lässt je- doch die gebotene Berücksichtigung des Kindeswohls ver- missen.18 Gerade die Tatsache, dass sich ein Kind als Flücht- ling in einem Drittstaat aufhält und damit nicht den üblichen Zugang zur Familiengerichtsbarkeit hat, kann bei der Aus- legung der Zuständigkeit nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn die Einholung einer Sorgerechtsentscheidung im Dritt- land unmöglich und im Herkunfsstaat nicht zumutbar ist, kann dies nicht zu dem Ergebnis führen, dass die betrofenen Kinder und ihre in Deutschland lebenden Eltern keinen Zu- gang zu einer sorgerechtlichen Entscheidung haben. Ins- besondere wenn dies bedeuten würde, dass die Kinder dauer- haf unbegleitet in einem Drittland ausharren müssen, obwohl sie grundsätzlich das Recht hätten, zu ihren Müttern oder Vä- tern nach Deutschland nachziehen zu können. Dies wider- spräche fundamental den Grundsätzen des Kindeswohl- prinzips. Im Einzelfall kann daher sehr wohl die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts angenommen werden. Dies wird sich regelmäßig nach den Möglichkeiten der Herbeiführung eines Sorgerechtsverfahrens im Aufenthaltsstaat richten und ab- hängig von den einschlägigen Rechtsquellen sein. 3.2 Die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge An die Klärung der Zuständigkeit schließt sich die Frage an, ob die elterliche Sorge des anderen Elternteils wegen einer dauer- hafen Abwesenheit und/oder Verhinderung für ruhend erklärt werden kann. Das Ruhen der elterlichen Sorge richtet sich im deutschen Recht nach § 1674 Abs. 1 BGB. Voraussetzung für ein Ruhen der elterlichen Sorge ist danach die länger andauernde tatsächliche Verhinderung eines Elternteils an der Ausübung der elterlichen Sorge, die nicht 11 In dem dem Beschluss (vgl. Fußn. 2) zugrunde liegenden Fall waren D. und M. unerlaubt aus ritrea ausgereist. Da das unerlaubte Verlassen des Landes strafbewehrt ist, müssten D. und M. bei ihrer Rückkehr nach ritrea mit empfindlichen Strafen rechnen (vgl. Fußn. 8). ntsprechend wurden D. und M. im Sudan als Flüchtlinge anerkannt. 12 Vgl.Art.8 u heVO. 13 Vgl.Art.13 u heVO. 14 Vgl.Art.14 u heVO,wonachsichinjedemMitgliedstaatdieZuständigkeiteinesGerichtsnachdemRechtdiesesStaatesbestimmt,wennsichausden sonstigenVorschrifender u heVOkeineZuständigkeitergibt. 15 Siehe Fußn. 2. Vgl. auch AG Berlin-Köpenick, Beschluss vom 23. September 2016, 23 F 68/16, asyl.net: M24384. 16 Vgl. Borth/Grandel, in: Musielak/Borth: FamFG, 6. Aufl. 2018, § 99 Rdnr. 4. 17 OLG Hamm, Beschluss vom 2. März 2020, 7 F 244/19. 18 Vgl. insbesondere Art. 3 UN-KRK und Art. 24 GRCh, wonach bei allen Maßnahmen, die Kinder betrefen, das Kindeswohl zu berücksichtigen ist. 405 


































































































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