Page 19 - NDV 08/2021
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 NDV 8/2021 IM FOKUS Corinna Ujkašević: Sorgerechtsentscheidungen im Rahmen des Familiennachzugs von Geflüchteten Anmerkung zum Beschluss des AG Hamburg vom 2. Dezember 20201 1. Hintergrund Für viele Geflüchtete besitzt das im deutschen Aufenthalts- recht garantierte Recht auf Familiennachzug eine ganz funda- mentale Bedeutung – handelt es sich hierbei doch um einen der wenigen legalen Zugangswege, der den Familien- angehörigen lebensgefährliche Fluchtrouten erspart. Vor allem Eltern wollen ihren Kindern jene Routen ersparen und müssen daher ihre Kinder im Heimat- oder in einem Drittland bei Verwandten oder Freunden zurücklassen. Sobald die Be- trofenen durch die Zuerkennung internationalen Schutzes in Deutschland Zuflucht gefunden haben, stellt sich für viele die Frage: Wie kann ich meine Kinder auf sicherem Wege nach- holen? Neben den zahlreichen anderen praktischen Hürden in den of langjährigen Familiennachzugsverfahren sehen sich allein- erziehende Eltern zusätzlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Denn für den Kindernachzug muss nach § 32 Abs. 3 AufenthG entweder das alleinige Sorgerecht2 oder bei Bestehen eines gemeinsamen Sorgerechts das Einverständnis des anderen Elternteils nachgewiesen werden.3 Hintergrund dieser Rege- lung ist die im Grundsatz nicht unberechtigte Sorge vor Kindesentführungen.4 Viele Alleinerziehende, gerade aus dem Raum Ostafrika, kön- nen jedoch weder das Einverständnis des anderen Elternteils noch das alleinige Sorgerecht nachweisen. Grund hierfür sind einerseits die dortigen teilweise unzuverlässigen Dokumenten- systeme, andererseits die von Flucht und Verfolgung ge- prägten Familienverhältnisse.5 Derlei Fällen könnte durch § 32 Abs. 4 AufenthG Rechnung getragen werden, nach dem unter anderem vom Nachweis des Einverständnisses abgesehen werden kann, wenn dies zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist. In der Praxis machen die deutschen Aus- landsvertretungen von der Anwendung dieser Härtefall- regelung jedoch häufig keinen Gebrauch.   Dr. Corinna Ujkašević ist Volljuristin und Mitarbeiterin bei Equal Rights Beyond Borders. Dort leitet sie seit Anfang 2020 das Projekt „Familiennachzug aus Ostafrika“, in dessen Rahmen sie Einzelfälle rechtlich unterstützt. 1 AG Hamburg, Beschluss vom 2. Dezember 2020, 277 F 266/20, abgedruckt in der NDV-RD 4/2021, 96. 2 Bereits die Frage, ob ein alleiniges oder ein gemeinsames Sorgerecht besteht, wird in der Praxis häufig ohne nähere Betrachtung des Familienrechts des ausländischen Staates beurteilt, vgl. Art. 21 GBGB. s ist aber bereits dies ein möglicher Lösungsansatz für die nachfolgend beschriebenen Fälle, da mitunter die alleinerziehenden lternteile auch allein sorgeberechtigt sind. In solchen Fällen bietet sich in Abgrenzung zum unter Punkt 3.2. beschriebenen Weg die Beantragung der Feststellung der Alleinsorge der Mutter an. 3 Das Bestehen des gemeinsamen Sorgerechts führt zudem dazu, dass sich der Nachzugsanspruch aus § 32 Abs. 1 AufenthG zu einer (intendierten) rmessens- vorschrif wandelt. Nach § 32 Abs. 3 AufenthG „soll“ dem Kind der Nachzug gewährt werden, wenn ein gemeinsames Sorgerecht der ltern besteht und das inverständnis des/der anderen Sorgeberechtigten vorliegt. Zu den Hintergründen siehe Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 32 Rdnr. 64 f. 4 Vgl. BT-Drucks. 17/13022, S. 22. 5 In den von der Verfasserin betreuten eritreischen Fällen sind die Väter in ritrea häufig jahrelang inhafiert oder infolge von Festnahmen oder Fluchtversu- chen verschollen. 403 


































































































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