Page 40 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
NDV 4/2022
3.2 „Letztes Wort“ des Herkunftsstaats
Lehnt das Gericht die Rückführung gemäß Art. 13 Abs. 1 Buch- stabe b bzw. Abs. 2 HKÜ unter Beachtung der in 3.1. dargestell- ten Sonderregelungen ab, sind weitere spezielle Regelungen zu beachten, durch die die Folgen einer Antragszurückwei- sung aufgrund dieser Ausnahmetatbestände relativiert wer- den und die Rückführung des Kindes durch ein Gericht des Herkunftsstaats erzwungen werden kann.
Es wird dann das unter Geltung der Brüssel IIa-Verordnung be- reits bestehende und zum Teil stark kritisierte Verfahren des sogenannten „Rückklappmechanismus“ in Gang gesetzt, das den Gerichten des Herkunftsstaates die Möglichkeit des „letz- ten Wortes“ über die Frage der Rückführung gibt. Dessen An- wendungsbereich ist allerdings verringert worden. Denn an- ders als unter Geltung der Brüssel IIa-Verordnung, wo die- ser bei der Ablehnung eines Rückführungsantrags aus den in Art. 13 HKÜ aufgeführten Gründen ausgelöst wird (Art. 11 Abs. 6 bis 8 Brüssel IIa-VO), beschränkt die Brüssel IIb-Verord- nung diesen Mechanismus auf Fälle, in denen die Ablehnung der Rückführung nach dem HKÜ aus den Gründen des Art. 13 Abs.  1 Buchstabe b bzw. Abs. 2 HKÜ erfolgt ist. Auch in ande- ren Details ist der Rückklappmechanismus verändert oder ein- gehender geregelt worden.
Ist dem HKÜ-Gericht bekannt, dass bei einem Gericht im Her- kunftsstaat bereits ein Sorgerechtsverfahren betreffend das Kind geführt wird, so hat es dieses Gericht binnen eines Mo- nats über seine Entscheidung zu informieren, indem es eine Abschrift seiner Entscheidung und die Bescheinigung nach Anhang I übermittelt, Art. 29 Abs. 3 und 4 Brüssel IIb-VO.
Ist im Herkunftsmitgliedstaat (noch) kein Sorgerechtverfahren anhängig, so hat eine Partei, wenn sie dort innerhalb von drei Monaten nach Mitteilung der die Rückgabe ablehnenden Ent- scheidung ein Sorgerechtsverfahren einleitet, die Entschei- dung im HKÜ-Verfahren und die Bescheinigung nach Anhang I vorzulegen (Art. 29 Abs. 5 Brüssel IIb-VO).
Diese Bescheinigung wird von dem Gericht, das die ablehnen- de Entscheidung in dem Rückführungsverfahren nach dem HKÜ erlassen hat, ausgestellt. Hierin bestätigt das Gericht be- stimmte standardisierte Angaben zum Verfahren.
In beiden Fällen stellt eine anschließende Entscheidung des Gerichts im Herkunftsstaat, die nun im Sorgerechtsverfahren die Rückführung des Kindes anordnet, eine sogenannte „privi- legierte Entscheidung“ dar, für die besondere Regelungen der Anerkennung und Vollstreckung mit dem Ziel gelten, den Ge- richten des Herkunftsstaates das „letzte Wort“ zu geben, Art. 29 Abs. 6, 42 ff. Brüssel IIb-VO.
Wenn nämlich das Gericht des Herkunftsstaats nun anschlie- ßend im Sorgerechtsverfahren eine Entscheidung fällt, die die Rückführung des Kindes zur Folge hat, also die Verpflichtung der Herausgabe des Kindes an die im Herkunftsstaat lebende Partei beinhaltet, und es die Bescheinigung nach Anhang VI (über Sorgerechtsentscheidungen nach Art. 29 Abs. 6 Brüssel IIb-VO, die die Rückgabe des Kindes zur Folge haben) erstellt, wird diese Entscheidung in dem anderen Staat, in dem sich das Kind nach der Entführung weiter befindet, privilegiert be- handelt. Hier ist die Entscheidung aus dem anderen Mitglied- staat zu vollstrecken, und dies geschieht auf einem vereinfach- ten Weg. In der Tatsache, dass diese Entscheidung automa- tisch anerkannt wird und keiner Vollstreckbarerklärung bedarf (Art. 43 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 Brüssel IIb-VO) liegt die Privile- gierung noch nicht, da dies, anders als unter Geltung der Brüs- sel IIa-VO, auch für alle anderen Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung der Fall ist (Art. 30 Abs. 1 und Art. 34 Abs. 1 Brüssel IIb-VO). Die Besserstellung besteht vielmehr darin, dass dieser Entscheidung, anders als andere Entschei- dungen betreffend die elterliche Verantwortung, deren Aner- kennung aus den Gründen im Katalog des Art. 39 Brüssel IIb- VO abgelehnt werden kann, nur ein einziger Ablehnungsgrund entgegengehalten werden kann: Abgelehnt werden darf die Rückführung nur dann, wenn die Entscheidung mit einer spä- teren Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das- selbe Kind unvereinbar ist, die entweder in dem Mitgliedstaat ergangen ist, in dem die Entscheidung geltend gemacht wer- den soll, oder die in einem anderen Mitgliedstaat bzw. einem Drittstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes getroffen worden ist, sofern die spätere Entscheidung anzuerkennen ist, Art. 50 Brüssel IIb-VO.
In Deutschland erfolgt eine weitere Privilegierung dieser Ent- scheidungen dadurch, dass sie nach § 44 Abs. 3 IntFamRVG vom spezialisierten Gericht von Amts wegen vollstreckt wer- den.
 Das Amtsgericht in Dresden lehnt rechtskräftig die Rück- führung von Chantal nach Frankreich wegen Vorliegens ei- ner schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder see- lischen Schadens für das Kind ab, die weder durch Schutz- maßnahmen, die das Gericht selbst anordnet, noch durch solche durch das französische Gericht ausreichend abge- wendet werden kann. Binnen drei Monaten nach der Ent- scheidung in Dresden legt Pierre die deutsche Entschei- dung im HKÜ-Verfahren und die vom Amtsgericht Dresden ausgestellte Bescheinigung nach Anhang I beim französi- schen Gericht in Lyon vor und beantragt dort eine sorge- rechtliche Entscheidung zu seinen Gunsten nebst Rückga- be des Kindes, also die Herausgabe des Kindes an ihn. Das Gericht in Lyon entscheidet nach sorgerechtlichen Kriterien und gelangt zu dem Ergebnis, dass Chantal besser bei Pi- erre aufgehoben ist. Es überträgt Pierre das alleinige Sorge-
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