Page 39 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
2.4 Umgang des Kindes mit dem zurückgelassenen Elternteil während des Rückführungsverfahrens
Der Grundgedanke, das Recht des Kindes auf persönlichen Umgang mit der die Rückführung beantragenden Person, meist dem zurückgelassenen Elternteil, während des laufen- den Rückführungsverfahrens nach dem HKÜ zu unterstützen, ist im HKÜ als eine der Aufgaben der Zentralen Behörden fest- gelegt, Art. 7 Buchstabe f HKÜ und Art. 21 Abs. 3 HKÜ (siehe hierzu ausführlich Teil 1, NDV 3/2022, S. 111 ff. [113]). Die Brüs- sel IIb-VO ergänzt diese Vorgabe: Art. 27 Abs. 2 Brüssel IIb-VO sieht vor, dass das HKÜ-Gericht in jeder Lage des Verfahrens prüfen kann, ob der Kontakt zwischen dem Kind und dem zu- rückgelassenen Elternteil unter Berücksichtigung des Kindes- wohls gewährleistet werden soll. Für deutsche Gerichte gilt so- gar die Pflicht zur entsprechenden Prüfung nach §§ 38 Abs.2, 15 IntFamRVG. Im Sinne des Kindeswohls soll, was zu begrü- ßen ist, grundsätzlich ein Kontaktabbruch bzw. eine Kontakt- pause während des Rückgabeverfahrens zwischen dem Kind und insbesondere einem zurückgelassenen Elternteil ver- mieden werden. Die Wiederaufnahme von Umgang wirkt sich auch zumeist deeskalierend auf den Konflikt der Erwachsenen aus.
3. Sonderregelungen für die Ausnahme- tatbestände, Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b und Abs. 2 HKÜ
Bereits unter Geltung der Brüssel IIa-VO gibt es Sonderrege- lungen für den Fall, dass der Antrag auf Rückführung in ei- nen anderen EU-Mitgliedstaat (außer nach Dänemark) abge- lehnt wird. Dieses Konzept hat zu einigen Unstimmigkeiten in der Praxis geführt, sodass erhebliche Stimmen aufkamen, das System komplett zu reformieren. Die Brüssel IIb-Verord- nung ist dem nicht nachgekommen, hat das grundsätzliche Konzept beibehalten, dieses aber modifiziert und insbeson- dere viel klarer gefasst. So enthält die Brüssel IIb-Verordnung im Vergleich zur Brüssel IIa-VO umfangreichere Sonderrege- lungen für die Annahme der Ausnahmetatbestände der Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ (Gefahr eines körperlichen oder see- lischen Schadens für das Kind bzw. unzumutbare Lage für das Kind auf andere Weise) und Art. 13 Abs. 2 HKÜ (Widersetzen des ausreichend alten und reifen Kindes gegen die Rückfüh- rung) (siehe zu den Ausnahmetatbeständen ausführlich Teil 1, NDV 3/2022, S. 111 ff. [116 ff.]).
3.1 Anordnung von Schutzmaßnahmen
Beibehalten worden ist die Regelung in Art. 11 Abs. 4 Brüssel IIa-VO, die besagt, dass ein Gericht die Rückführung nur auf-
grund des Ausnahmetatbestands des Art. 13 Abs. 1 Buchsta- be  b HKÜ nicht ablehnen darf, wenn im Staat, in den das Kind zurückgeführt werden soll, angemessene Vorkehrungen ge- troffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rück- gabe sicherzustellen (Art. 27 Abs. 3 Brüssel IIb-VO). Genauer als die Brüssel IIa-VO, die offen lässt, wer sich um die Schutzmaß- nahme zu bemühen hat, führt Art. 27 Abs. 3 Brüssel IIb-VO aus, dass entweder die die Rückführung beantragende Partei das Gericht hiervon durch Vorlage hinreichender Nachweise über- zeugt oder das Gericht auf andere Weise zu dieser Überzeu- gung gelangt.
 Mila macht geltend, Chantal habe aufgrund massiver nega- tiver Erlebnisse im Herkunftsstaat wiederholt angegeben, sie bringe sich um, wenn sie wieder dorthin müsste. Sie legt dem Gericht ein aktuelles fachärztliches Zeugnis vor, aus dem sich detailliert begründet eine konkrete Suizidgefahr des Kindes für den Fall ihrer Rückführung in den Heimat- staat ergibt, und zwar unabhängig davon, bei welcher Be- treuungsperson sie dort leben wird.
 Wenn Pierre nachweist, dass eine Kinder- und Jugendpsy- chiatrie in Frankreich einen stationären Behandlungsplatz für Chantal für den Fall ihrer Rückkehr nach Frankreich an- bietet, darf die Rückführung nicht abgelehnt werden, wenn eine Ablehnung wegen Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ auf- grund der konkreten Suizidalität erwogen wird.
Die Brüssel IIb-Verordnung gibt daneben dem Gericht, das über den Rückführungsantrag nach dem HKÜ entscheidet, erstmals selbst das Recht, vorläufige Schutzmaßnahmen für das Kind anzuordnen, um dieses vor einer schwerwiegenden Gefahr i.S.d. Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ zu schützen (Art. 27 Abs. 5 Brüssel IIb-VO). Erwägungsgrund 46 der Brüssel IIb- VO nennt als Beispiele die Anordnung, dass das Kind sich wei- ter bei der Person aufhält, die die tatsächliche Sorge hat oder die Regelung von Umgang mit dem Kind, bis die Gerichte des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes entschei- den. Diese Schutzmaßnahmen sind EU-weit (außer in Däne- mark) und insbesondere auch im Herkunftsstaat anzuerken- nen und vollstreckbar, Art. 2 Abs. 1 Buchstabe b Brüssel IIb- VO. Hiermit erhält das mit dem Rückführungsantrag nach dem HKÜ befasste Gericht wichtige und effektive Möglich- keiten, selbst und damit regelmäßig auf schnellerem Weg für den Schutz des Kindes zu sorgen. Andererseits besteht die Ge- fahr einer Verfahrensverzögerung dadurch, dass so Fragestel- lungen betreffend die elterliche Verantwortung Einzug in das HKÜ-Verfahren nehmen können. Hier wird es einer Balance im Einzelfall bedürfen. Es bleibt deswegen abzuwarten, in wel- chen Fällen und in welchem Umfang deutsche Gerichte von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen werden.
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