Page 38 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
NDV 4/2022
sehr praxisrelevant und oft mit erheblichen Auswirkungen auf die Verfahrensführung und Entscheidung verbunden.
2. Sonderregelungen zum Ablauf des HKÜ-Verfahrens
2.1 Alternative Streitbeilegung
Es war ein Anliegen des EU-Gesetzgebers, die außergerichtli- che Streitbelegung zu stärken. Daher geht die neue Brüssel IIb- VO ausdrücklich auf alternative Streitbeilegungsverfahren im Rückführungsverfahren nach dem HKÜ ein:
Wie auch schon im Geltungsbereich der Brüssel IIa-Verord- nung ist es eine der Aufgaben der in jedem EU-Mitgliedstaat angesiedelten Zentralen Behörden, gütliche Einigungen durch Mediation oder andere Mittel der alternativen Streitbei- legung zu erleichtern (Art. 79 Buchstabe g Brüssel IIb-VO). So weist das Bundesamt für Justiz als deutsche Zentrale Behör- de, wenn es in einen Fall eingeschaltet ist, bereits auf diese Möglichkeiten hin, bevor ein gerichtliches Verfahren eingelei- tet wird.
Art. 25 Brüssel IIb-VO enthält nun erstmals auch die Verpflich- tung für das mit dem Rückführungsantrag nach dem HKÜ be- fasste Gericht, die Parteien zu motivieren, alternative Streit- beilegungsverfahren, wie z.B. eine Mediation, zur Beilegung ihres Konflikts zu nutzen. Allerdings darf dies nicht dem Kin- deswohl widersprechen und auch nicht das Verfahren unver- hältnismäßig verzögern. In Deutschland stehen hierfür bereits seit längerer Zeit besondere Strukturen zur Verfügung, auf die von vielen deutschen Gerichten auch in der Vergangenheit be- reits hingewiesen worden ist. Es werden verschiedene Mo- delle genutzt, um Mediation so in das Rückführungsverfah- ren zu integrieren, dass sich das Verfahren nicht verzögert (sie- he hierzu Paul/Kiesewetter 2009). Bei der Suche nach speziell geschulten Mediator/innen und der Organisation der Media- tion helfen insbesondere das Internationale Mediationszen- trum für Familienkonflikte und Kindesentführung (MiKK e.V.) und die Zentrale Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kind- schaftskonflikte und Mediation (ZAnK).1
Darüber hinaus geben die erweiterten Möglichkeiten für Ge- richtsstandsvereinbarungen in Art. 10 Brüssel IIb-VO dem HKÜ-Gericht ausgedehnte Möglichkeiten, Parteivereinbarun- gen rechtliche Verbindlichkeit zu verschaffen.
1 Quellen und Kontakt siehe NDV 3/2022, S. 111 ff. (113, 119).
2.2 Eilverfahren
Trotz der bereits im HKÜ und der Brüssel IIa-Verordnung ent- haltenen Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung dauern Verfahren nach dem HKÜ weltweit und auch innerhalb der EU derzeit häufig zu lang. Die Brüssel IIb-Verordnung fokussiert deswegen mit Blick auf das kindliche Zeitempfinden auch auf die Dauer des Rückführungsverfahrens und betont die Eilbe- dürftigkeit von Rückgabeverfahren nach dem HKÜ für die Zen- tralen Behörden sowie die Gerichte erster und höherer Instanz. Sie konkretisiert das im HKÜ angelegte Konzept des Eilverfah- rens (siehe hierzu ausführlich zum HKÜ-Verfahren allgemein Teil 1, NDV 3/2022, S. 111 ff. [115]). So erlegt sie der Zentralen Behörde des ersuchten Mitgliedstaates die Pflicht auf, den An- tragseingang binnen fünf Tagen zu bestätigen (Art. 23 Abs. 2 Brüssel IIb-VO). Außerdem setzt sie für die Gerichte aller Ins- tanzen ausdrückliche Fristen, sodass jede Instanz grundsätz- lich innerhalb von sechs Wochen eine Entscheidung über die Rückgabe treffen soll (Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 Brüssel IIb-VO).
Die Brüssel IIb-VO regt außerdem an, Spezialgerichte einzu- richten, um Rückführungsverfahren rascher abzuschließen (Erwägungsgrund 41). Solche sind bislang nicht in allen EU- Staaten eingerichtet, wohl aber in Deutschland (siehe hierzu ausführlich Teil 1, NDV 3/2022, S. 111 ff. [115]).
2.3 Kindesanhörung
Die Brüssel IIb-Verordnung stärkt ferner das Recht des Kindes auf Meinungsäußerung im Rückführungsverfahren, das bis- lang in den Mitgliedstaaten nach deren jeweiligem nationalen Recht sehr unterschiedlich gehandhabt worden ist. Der erst- malig in Art. 21 Brüssel IIb-VO verankerte verordnungsautono- me Standard zur Kindesanhörung gilt über den Verweis in Art. 26 Brüssel IIb-VO auch für Rückführungsverfahren nach dem HKÜ. Danach ist dem Kind, das fähig ist, sich seine eigene Mei- nung zu bilden, eine echte und wirksame Gelegenheit zu ge- ben, diese Meinung direkt oder durch eine/n Vertreter/in oder eine geeignete Stelle zu äußern. In Deutschland ist insoweit nicht mit einer Änderung der gerichtlichen Praxis zu rechnen, da die deutschen Gerichte bereits in der Vergangenheit Kinder ab dem dritten Lebensjahr regelmäßig in Rückführungsver- fahren persönlich angehört haben, wodurch auch dieser neue Standard gewahrt sein dürfte. Andere Mitgliedstaaten haben zu prüfen, ob ihre bisherige Praxis ausreicht.
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