Page 28 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 IM FOKUS
NDV 4/2022
ist damit die radikale Abkehr des Kommandosystems verbun- den. Nicht der Chef sagt, wie das Unternehmen die Ziele er- reicht, sondern der Mitarbeitende selbst formuliert quasi ohne Vorgaben, allerdings am Ende auch ohne jeglichen Eignungs- effekt (im Sinne von Eigentum) die kapitalistische Zielsetzung. Das haben Theoretiker bislang für unmöglich erachtet, aber in dieser Phase des Kapitalismus scheint dies möglich zu sein. Noch schärfer ist die Subjektivierung mit der vollständigen Auflösung der Mitarbeitenden bzgl. der Identitätssphären von Arbeit und Person. Das meint im eigentlichen Sinn Entgren- zung. In früheren Zeiten war auch die maximale Nutzung der Mitarbeitenden im Sinne ihrer Arbeitskraft das Ziel der Unter- nehmen. Nun erfolgt diese Maximierung durch die In-Betrieb- nahme der Mitarbeitenden. Damit wird die bis dahin immer umkämpfte, aber klare Trennung von Arbeits- und Privatsphä- re aufgehoben. Die Sicherstellung der Trennung von Arbeit und Privatheit ist integraler Bestandteil gesunder Lebensfüh- rung. Indirekte Steuerung betritt terra incognita. Im Zusam- menspiel mit der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort ver- schieben sich die Grenzen zwischen Privatsphäre und Arbeit. Es kommt zur Entgrenzung und damit auch zum Verlust von Arbeitsplatzsicherheit, Sicherheit bezüglich der Arbeitszeit und der Sicherheit bezüglich dem Arbeitsort. Mit der Flexibi- lisierung von Arbeit verlieren Mitarbeitende die bis dahin ga- rantierten Sicherheiten, die das Wohl von Mitarbeitenden im Hinblick auf Unversehrtheit ihrer Person rechtlich sicherstellt. Paradox dabei ist, die Mitarbeitenden selbst verzichten darauf. In der Konsequenz: Die postulierten Positiveffekte bei Buurt- zorg – mehr Autonomie, mehr Selbststeuerung, mehr Partizi- pation und mehr Flexibilität – sind erkauft mit Mehrarbeit, Ent- grenzung und damit psychischer Belastung, selbst aufoktro- yierter Produktivitätserwartung und Renditeerbringung mit größer werdender Arbeitslast und vermutlich höherer psychi- scher Belastung ohne Chance auf wirkliche Beteiligung.
5. Daten zu flexiblen Arbeitszeitmodellen als Kern indirekter Steuerung
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die sich mit dem Effekt von flexiblen Arbeitszeitmodellen beschäftigen (für ei- nen Überblick BMAS 2015). Dabei ist der Hinweis notwendig, dass es unter dem Stichwort flexible Arbeitszeiten eine gro- ße Anzahl unterschiedlicher Arbeitszeitmodelle gibt (Vertrau- ensarbeitszeit, Homeoffice, Telearbeit, Lebensarbeitszeitmo- delle etc.). Daher ist eine präzisierte Darstellung schwierig. Da- rüber hinaus gibt es Präsenzprofessionen (Pflege, Erziehung, Bildung etc.), die flexible Arbeitszeitmodelle nur in beschränk- ter Form zulassen. Konkretisierte Studien zu den Effekten der selbstgesteuerten Teams bei Buurtzorg liegen nicht vor. Wir extrapolieren daher die Studie von Janke, Stamov-Roßna- gel und Scheibe (2014) auf potenzielle Effekte, die sich im Zu-
sammenspiel mit Vertrauensarbeitszeit ergeben, als generalis- tische Analyse auf das Thema der indirekten Steuerung. Wir nehmen nicht für uns in Anspruch, dass diese Effekte 1  :  1 bei Buurtzorg wirken. Allerdings lässt sich eine Übertragung ver- muten. Darüber hinaus integrieren wir eine qualitative Studie zu flexiblen Arbeitszeitmodellen in der Pflege (Krenn/Papou- scheck 2006). Janke et al. (2014) untersuchten den Entgren- zungseffekt und mögliche vermittelnde Variablen. Dabei un- tersuchten sie die Segmentation von Arbeits- und Privatsphä- re faktisch und erwünscht in beide Richtungen. Es wurde also danach geschaut, ob es eine erwünschte Entgrenzung von Ar- beits- und Privatsphäre gab bzw. ob diese faktisch gesetzt war. Dabei betrachteten die Autoren, ob Arbeitsinhalte in das Pri- vatleben übertragen wurden und umgekehrt, ob Privatleben ins Arbeitsleben exportiert wurde. Als vermittelnde Variablen wurden der Grad an Commitment, Autonomie, Überstunden und Erreichbarkeitskultur erfasst. Weitere erhobene Variablen waren Alter, Pflege und die Dauer der Betriebszugehörigkeit. Es zeigte sich, dass bei Personen mit Vertrauensarbeitszeit die Grenzen zwischen Arbeit und Privatsphäre deutlich stärker verschwimmen.
Dabei wirkt die Arbeit stärker ins Privatleben hinein als umge- kehrt. Dies ist asymmetrisch zu den Effekten, dass grundsätz- lich – unabhängig vom Arbeitszeitmodell – der Wunsch der Mitarbeitenden stärker ist, Arbeitsinhalte aus dem Privatle- ben herauszuhalten als Privates aus dem Arbeitsleben auszu- schließen. Wie vermutet ergeben sich allerdings bei Personen mit Vertrauensarbeitszeit eine erhöhte Erreichbarkeitskultur und Mehrarbeitszeit. Im Gegensatz zu diesen Belastungsfak- toren erhöht sich aber auch das Commitment bzgl. der Ar- beit und dem Unternehmen und das Gefühl der Autonomie. Wir haben es daher mit ambivalenten Effekten im Hinblick auf Vertrauensarbeitszeit zu tun. Sie implizieren sowohl positive wie auch negative Effekte. Der wesentliche Prädiktor ist dabei der Wunsch nach einer Entkopplung von Arbeits- und Privat- leben, das (quod erat demonstrandum) im Wesentlichen über die Form des Arbeitszeitmodells erfolgt. Die Bedeutung nach mehr Autonomie korreliert mit dem Alter von Mitarbeitenden. Gehen wir davon aus, dass diese Belastungsfaktoren mit einer Intensivierung von Arbeit und erhöhtem psychischem Druck einhergehen, gilt es, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, gesundheits- bezogene und organisationale Themen in den Blick zu neh- men, um die positiven Effekte mit den negativen in Einklang zu bringen.
Krenn und Papouscheck (2006) untersuchten die Wirkung von flexiblen Arbeitszeitmodellen in der Pflege. Sie fokussierten dabei die Fragen, inwieweit eine typische Frauenarbeit zu ei- ner Entgrenzung von Familie und Beruf führt, inwieweit es zu einer Entgrenzung der Organisationseinheit Betrieb kommt im Rahmen der mobilen Arbeit und inwieweit dies zu einer Entgrenzung von Subjekt und Arbeitskraft führt. Sie fanden in
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