Page 27 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
IM FOKUS
her ist es nicht verwunderlich, dass wir es auch im Sozialsek- tor finden. Noch unbemerkter ist mit dem Ende der 1980er- Jahre eine Vermarktlichung auch des Sozialsektors entstan- den (Evers 2018; Wasel 2012). Dieses Phänomen wird je nach Bedeutung der Unternehmensebenen unterschiedlich be- nannt. Da die Steuerung des Unternehmens in der Hierarchie der Unternehmensführung, -ausrichtung und -prinzipien eine tragende Rolle spielt, wird diese Umkehrung der Unterneh- menslogik mit dem Begriff der „Indirekten Steuerung“ belegt (Peters/Sauer 2005; Wagner 2005). Damit wird der paradig- matische Wandel der Unternehmensorganisation beschrie- ben: „Unter Indirekter Steuerung verstehen wir eine Form der Fremdbestimmung von Handeln, die sich vermittelt über ihr eigenes Gegenteil, nämlich die Selbstbestimmung oder Au- tonomie der Individuen umsetzt, und zwar so, dass sie da- bei nicht nur auf explizite, sondern auch auf implizite Anwei- sungen sowie auf die Androhung von Sanktionen verzichten kann.“ (Peters/Sauer 2005, 2)
Heruntergebrochen auf den Sozialsektor sehen wir nahezu die gleichen Phänomene, wie sie zunächst in der „freien“ Wirt- schaft beschrieben wurden (Wagner 2005). Ausgangspunkt ist die Einführung von radikalen Marktmechanismen. Seit den 1980er-Jahren mit dem neo-liberalen Policy-Verständnis der Kohl-Regierung wurden die ersten marktliberalen Momen- te eingeführt. Im Wesentlichen erfolgte dies auf zwei Ebenen. Zum einen wurde die Teilnahme am Markt liberalisiert, in dem auch „sonstige Träger“, als Anbieter zugelassen werden. Da- mit erfolgte eine schärfere Konkurrenzsituation. Darüber hi- naus wurden neue Finanzierungsinstrumente eingeführt, die anstelle von (Vollkosten)-Deckungsprinzipien auf progressive Pflegesätze, DRGs, persönliche Budgets und Ausschreibungs- logiken setzten (Wasel 2012). Die Entwicklung verschärfte sich im Rahmen der New Economy Diskussion (Schröder 1999). Diese Verschiebung hatte zunächst eine starke direkte Steu- erungslogik der Unternehmen zur Folge. Es galt, die Ausrich- tung durchgehend an der Allokation der Mittel zu orientieren. Damit erfolgte automatisch die Ausrichtung am Kunden. Die Unternehmen nahmen marktwirtschaftliche Rechtsformen an (AG, GmbH etc.). Führung wurde von betriebswirtschaftlich geprägten Personen übernommen. CEOs wurden zunehmend häufiger Betriebswirte anstelle von Theologen. Die Kommuni- kationslogik und -struktur orientierte sich an modernen Cont- rollingsystemen, und den Handlungsschwerpunkt bestimmte der Kunde (vgl. Wasel 2012).
Diese Phase beschreiben Peters und Sauer (2005) als „Um- schlagphase“ (S. 5). Die eigentlich revolutionäre Phase er- folgt in der Revival Phase der Governancestruktur der „bür- gerschaftlichen Steuerung“ (Wasel 2012). Die von uns eher als Abkehr von Marktmechanismen beschriebene Phase ist zu- mindest implizit von der Denklogik Laloux` (2014) geprägt. Daher wurden die Elemente der dezentralen, partizipativen
Steuerung als Chance beschrieben, Unternehmenslogiken mit flachen Hierarchien, inhaltlich geprägten Handlungsfel- dern und Partizipation zu versehen. Tatsächlich war der Markt im Gegensatz zu Mahnungen anderer Autoren häufig nur als Manko, nicht aber als Auslöser für neo-liberale Arbeitsmodelle diskutiert (Dahme/Wohlfahrt 2011). Für uns stand der „Erfolg“ im Rahmen von mehr Mitsprache, klarer inhaltlicher Orientie- rung, weniger „Unternehmen“, mehr Autonomie und Selbst- steuerung im Sinne der Rückkehr zu einer fachlich geprägten selbstständigen Steuerung der Sozialräume im Fokus (Wasel/ Haas 2017). Wir wollen hier nicht verkennen, dass wir nur eine Seite der Medaille oder die zweite Seite nur rudimentär (brü- chig- und gemischt finanzierte Angebote) betrachten haben (Wasel/Haas 2017, 2018, 2019). Diese Sichtweise wollen wir durchaus selbstkritisch beleuchten.
Die von mehreren Autoren aufgeworfene Frage lautet: Ist mit selbststeuernden Organisationen (z.B. Buurtzorg) nicht ein neo-liberales Arbeitsmodell verbunden (Wagner 2005; Peters/ Sauer 2005)? Symptomatisch für die zumeist unbewusste In- filtration indirekter Steuerung in der Sozialwirtschaft sind fol- gende Punkte:
▶ markt- (nicht betriebs-)orientierte Kennziffern zur Steue- rung und Bewertung der Leistung im Sozialbereich (Pro- duktivitätsvorgaben bei Buurtzorg 60 %; Wasel/Haas 2019),
▶ der Kunde ist der Dreh- und Angelpunkt in der Sozialwirt- schaft (das scheint im Bereich der Humandienstleistung nicht verwunderlich, da dies ja der zentrale Teil der Pro- duktion ist); die radikale Ausrichtung der Unternehmens- prozesse am Menschen als Kunden (nicht als zu Pflegen- den etc.; im Gegenteil: Buurztorg macht ihn gar zum akti- ven Mitproduzenten [Sozialraum]),
▶ die Arbeitsorganisation ist vollständig den Mitarbeitenden selbst überlassen. Auch bei Buurtzorg erfolgt die Betriebs- organisation in den Teams flexibel und selbstgesteuert.
▶ Arbeitszeiten werden in einer atmenden Produktion je nach Bedarf eingesetzt.
▶ Leistung und Erfolg werden auch bei Buurtzorg verbunden (Boni gehen mit Erfolg und Zielvereinbarungen einher).
▶ Zielvorgaben, Budgetierung, Personalbemessung erfolg- ten auch bei Buurtzorg selbstgesteuert (Handeln erfolgt in dezentralen Unternehmensorganisationen).
Es kann daher nicht verwundern, dass ausgehend von der Analysesystematik von Peters und Sauer (2005) die prototy- pischen Phänomene dieser neuen historisch-kapitalistischen Phase „Vermarktlichung und Subjektivierung“ sind. Das be- reits in den 1980er-Jahren zu erkennende Phänomen der Ent- grenzung von Arbeit wurde vor allem mit Mehrarbeit bei fle- xiblen Arbeitszeitmodellen verkoppelt. Dies ist aber nur ein Phänotyp. Subjektivierung besitzt zwei Ebenen. Zum einen
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