Page 29 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
IM FOKUS
ihren Untersuchungen heraus, dass im Gegensatz zu den als „incentives“ formulierten flexiblen Arbeitszeiten in der Pflege aus dem Blickwinkel der Entgrenzung sich mindestens drei Problemfelder öffnen: Erstens wird in den qualitativen Be- schreibungen der Mitarbeitenden der mobilen Dienste offen- sichtlich, dass die Flexibilisierung von Arbeitszeit lediglich den Zeitpunkt, aber nicht die Lage terminiert. Damit ist gemeint, dass Flexibilität in Form von Teilzeit-, Wochenend-, Schichtar- beitszeiten etc. möglich sind, aber auch diese oftmals mit den flexiblen Anforderungen an Kunden einhergehen. Gänzlich ausgeschlossen als Präsenzprofession ist die Bestimmung des Ortes bzw. der Lage. Die Arbeit ist beim Kunden zu erbringen und zwar zur terminierten Uhrzeit, die sich nach Tourenplan und Kundenerfordernissen ergibt. Das Thema der Entgren- zung erfährt in den mobilen Diensten eine Verschärfung, da der Ort der Arbeitsleistung nicht mit der Betriebsorganisation einhergeht. In Verbindung mit dem geringen kollektiven Or- ganisationsgrad kommt es im Zusammenspiel mit der wich- tigen Frage der direkten Partizipation (Teilhabe; Eigentumsbe- teiligung in Form von Genossenschaften, Vereinen etc.) und indirekten Partizipation (Mitsprache in Form von Betriebsrä- ten, Aufsichtsratsmandaten etc.) zu erheblichen Beschrän- kungen. Die konfessionellen Träger umgehen die Thematik mit der Begründung einer Dienstgemeinschaft, die keine Tren- nung in Kapital und Arbeitskraft ebenso wie Leitung und Mitar- beitende vorsieht (vgl. kritisch dazu Hesse-Möhring 2008). Fast alle Mitarbeitenden in den befragten Institutionen sehen nur sehr geringe Partizipationsmöglichkeiten. Bezüglich der Ent- grenzung von Subjekt und Arbeitskraft wird gar von einer dop- pelten Subjektivierung gesprochen. Tatsächlich ist im Bereich der Pflege häufig eine Form der Subjektivierung durch selbst- gesteuerte Team- und Tourenplanungen etc. erkennbar. Da- mit verbunden ist das bereits oben beschriebene Phänomen der Selbst- anstelle von Fremdausbeutung. Die zweite Form der Subjektivierung erfolgt durch die Arbeit selbst. Da Pflege eine Form von Beziehungsarbeit ist, ist sie mit dem Einbrin- gen von Emotionen verbunden. Das führt zu einer ganzheitli- chen Involvierung der Person. In Verbindung mit dem steigen- den ökonomischen Druck und den damit einhergehenden Ra- tionalisierungs- und Rationierungsmaßnahmen (Wasel 2012) erfolgt die Lösung in der Entgrenzung von Subjekt und Ar- beitskraft, oder anders formuliert: Mitarbeitende in der Pflege versuchen das zeitliche Manko durch den Ökonomisierungs- druck über unentgeltliche Mehrarbeit und erhöhte Arbeitsra- tionalisierung zu beheben.
Die Ergebnisse der Studie von Krenn und Papouscheck (2006) können mit der Studie von Richter (2017) kontrastiert wer- den. Sie untersuchte flexible Arbeitszeiten in der Pflege im Ver- gleich mit skandinavischen Modellen. Dabei wurden zunächst die schwedischen Daten subsummiert. Das Modell geht von einem spezifischen Vertrauensarbeitszeitmodell aus, das das Kürzel 3  -  3 trägt. Dabei ergaben sich nach sechs Monaten po-
sitive Effekt im Hinblick auf Gesundheit, Erholung, Arbeitsmo- tivation, Kompetenzentwicklung, Optimierung von Arbeits- prozessen, Zeit für Patienten und Arbeitsmodellen.
6. Was bedeutet dies für die Zukunft: mögliche Lösungen
Die in diesem Artikel aufgeworfene Frage, wie sich die posi- tiven Effekte in und für die Pflege im Rahmen eines teilauto- nomen Modells wie Buurtzorg umsetzen lassen, ist in Anbe- tracht der Komplexität des Problems nicht mit einem schlich- ten Maßnahmenkatalog abzuhandeln. Es können vermutlich vier Ebenen der Maßnahmen in Betracht kommen. Die ers- te Ebene ist die (gesellschafts-)politische Ebene. Dabei müs- sen die Themen der grundsätzlichen Veränderung der Arbeits- welt, notwendige Demokratisierungspotenziale und organi- sational-unternehmerische Möglichkeiten eruiert werden. Die zweite Ebene ist die arbeitsrechtliche Ebene. Dabei gilt es, die Potenziale des Arbeitsrechts (Arbeitszeit etc.) und ihre Begren- zungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die dritte Ebene umfasst die Themen des Tarifrechts und ihre Möglichkeiten der Be- grenzung. Die vierte Ebene umfasst individuelle Kompetenz- schulungen im Hinblick auf veränderte Arbeitswelten.
Auch wenn das Thema der Partizipation eher als abhängige Variable der Entgrenzungsdiskussion geführt wird (starke Pro- duktivität bleibt ohne Beteiligung am Kapital; Peters/Sau- er 2005; Krenn/Papouscheck 2006; Wagner 2005), so würden wir sie eher als unabhängige Variable für die erfolgreiche Um- setzung bei gleichzeitiger Begrenzung formulieren. Wir vertre- ten die These, dass eine vermutlich notwendige Bedingung zur erfolgreichen Umsetzung teilautonomer Modelle tatsäch- liche Beteiligungsmöglichkeiten sind, die über die indirekten Formen hinausgehen. Damit tangieren wir das in der Nach- kriegszeit forcierte politische Thema der Bevölkerungsbeteili- gung am Kapital und damit einhergehend die Frage, was wä- ren mögliche Rechtsformen für Unternehmen, die eine direkte Partizipation ermöglichen. Wenn dies eine notwendige Vo- raussetzung für die Begrenzung von Arbeit ist, muss die Poli- tik evtl. die Vorgaben für die Gemeinnützigkeit an die Organi- sationsform binden. Dies impliziert, die Abgabenordnung da- hingehend zu weiten, dass die Gemeinnützigkeit zwingend an Rechtsformen der direkten Partizipation gebunden wird, das wären u.U. Vereine, Genossenschaften oder Aktiengesellschaf- ten. Sie müssten im Besitz (zu welchen Anteilen wäre zu disku- tieren) der Mitarbeitenden stehen. Stiftungen müssten mit ei- ner starken Form der Partizipation versehen sein. Diese Struk- turmaßnahme schließt die Selbstausbeutung nicht aus, sie wird aber kompensiert durch die Anreicherung des eigenen Kapitals (oder einer sehr starken Beteiligung).
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