Page 25 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
IM FOKUS
folgsmomente des Konglomerats Buurtzorg sind insbesonde- re die hohe Mitarbeiterzufriedenheit, die geringe Fluktuation und die sehr hohe Nachfrage. Sie wirken als gelungenes „em- ployer branding“, das ohne aktives Marketing auskommt (de Blok 2015). Dieses scheinbare Paradoxon lässt einmal mehr die Bedeutung von Authentizität in menschlichen Interaktio- nen (Pflege als Human[dienst-]leistung) an Bedeutung gewin- nen und als Kausalitätsschlüssel wirken. Aus wirtschaftlicher Sicht ist zwischen betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht zu unterscheiden. Die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse sind beeindruckend. Das Wachstum von Buurtzorg korreliert mit der Anzahl an Mitarbeitenden, Teams, Kunden und der Rendi- te (vgl. Wasel/Haas 2018, 602).
Die volkswirtschaftliche Perspektive ist differenzierter. Die ers- te und auch wichtige Botschaft ist, Buurtzorg ist kein kosten- günstigeres Modell. Im Gegenteil, die direkt geleistete Pflege ist sogar teurer als bei vergleichbaren Diensten (Wasel/Haas 2019). Die konsequent sozialräumlich orientierte Pflegearbeit (Hinte 2007; Wasel 2012) wirkt in ihrer fallunabhängigen und daher indirekten Pflege mit einer deutlich verbesserten Pflege- qualität. Die ungelöste Frage eines potenziellen Verschiebeef- fektes in den Gesundheitsbereich (anderer Kostenträger) hin- ein ist aufgrund der Datenlage nicht klar zu beantworten, auch wenn es in der Gesamtbetrachtung unwahrscheinlich ist, dass die positiven Wirkungen des neuen Pflegemodells nach Buurt- zorg dadurch Abstriche erfahren (Wasel/Haas 2019).
Der Hype um Buurtzorg kennt aber auch noch weitere Grün- de. So ist aus einer unternehmerischen Perspektive die sehr schlanke Overheadstruktur evident. Mit nur ca. 50 Mitarbei- tenden im Back Office wird die gesamte Mentoren- und Coa- chingstruktur gesteuert. Das entspricht einer Leitungsspanne (besser Coachingspanne) von 1  :  300. Dies ist außerordentlich, da Leitungsspannen in der Sozialwirtschaft in der Regel zwi- schen 1  :  10 bis 1  :  100 gehen (Wasel 2012). Demgegenüber ste- hen allerdings nominale Overheadkosten, die bei ca. 8 % lie- gen und nur marginal übliche Overheadkosten unterschreiten (Wasel/Haas 2019). Das mag darin begründet sein, dass die leistungsstarke EDV (Omaha) mit vermutlich erheblichen Kos- ten zu Buche schlägt. Leistungsstarke Organisationen schei- nen aber auch ohne weitere „Midlayer“ in der Hierarchie aus- zukommen (oder gar hierarchiefrei zu funktionieren). In die- sem Zusammenspiel wird das Thema der Lösung komplexer Probleme erörtert (Faschingbauer 2013). Systemtheoretisch werden Arbeiten mit Menschen (Humandienstleistung) als In- teraktion nicht trivialer Systeme (Menschen) betrachtet. Pfle- ge wird daher als komplexer Prozess gesehen. Bei der Lösung komplexer Sachverhalte ist es nicht mehr möglich, a priori richtige Antworten zu geben. Es bedarf des Zusammenspiels unterschiedlicher Perspektiven. Die dabei zu lösenden (kom- plexen) Probleme brauchen multidiskursive Teams. Buurtzorg
ist ein solches Modell, das organisational multiperspektivisch angelegt ist.
Interesse weckt das Organisationsmodell von Buurtzorg auch, weil es die bislang nur rudimentär erörterten Thesen zum Pas- sungsverhältnis von hybriden Anforderungen in der Sozial- wirtschaft und ihrer organisationalen Gestaltung beantworten könnte (Wasel/Haas 2017; Wasel 2012; Evers 2018). Hybride Anforderungen aus Staat, Markt, Bürgerschaft und familiärem Umfeld (Billis 2010) sind zentral bei der Gestaltung sozialwirt- schaftlicher Unternehmen (Wasel 2012). Dabei tauchen häufig Probleme auf, die mit den unterschiedlichen Organisationser- fordernissen je nach Anforderungsregime einhergehen. Unre- flektiertes Handeln kann in Unternehmen zu psychopatholo- gischen Strukturen führen und ein Unternehmen schwer be- lasten (Wasel 2012). So agiert die Führungsebene häufig nach Markterfordernissen, während Mitarbeitende altruistisch han- deln. Dieser Mismatch kann zu Verwerfungen innerhalb des Unternehmens führen (schizophrene Unternehmensstruk- turen, der Kopf handelt anders als der Bauch). Die skizzierte Problematik scheinen teilautonome Organisationen emer- gent zu lösen. Mehr vermutet als evidenzbasiert richten teil- autonome Teams im Sozialraum automatisiert ihr Handeln am Klienten aus (hierzu fehlen empirische Daten). Ob dies den Anforderungen an Staat, Markt, Bürgerschaft oder Familie ent- spricht, scheint redundant und tritt in Mischformen schlicht in der komplexen Interaktion mit Menschen zurück. Auch wenn die präzise Kausalitätskette nicht vollständig gelöst werden kann, scheint sie eng mit den evolutiven Lösungsmustern selbststeuernder Teams einherzugehen (Laloux 2014). Hybri- de Organisationen und ihre komplexen Anforderungen kön- nen mit den komplexen Antwortmustern von Netzwerkorgani- sationen beantwortet werden (Kruse et al. 2007). Vergleichbar mit neuronalen Organisationsmustern lösen sich zur Klärung von komplexen Fragen vorhandene Antwortstrukturen und verbinden sich zu neuen. So erfährt das Erfordernis einer hyb- riden Organisationsgestaltung eine (scheinbar) einfache Ant- wort.
3. Das Buurtzorg Modell
Wesentliches Ziel ist, dass Mitarbeitende entsprechend ihrer Berufung selbstständig, ganzheitlich und trotzdem zielorien- tiert (qualitativ und quantitativ) ihrem Pflegeberuf nachgehen können.
Buurtzorg ist formalrechtlich eine Stiftung. Die Stiftung hat ca. 850 Teams, bestehend aus jeweils 12 Mitgliedern mit un- terschiedlichen Funktionen (Buurtzorg 2020). Jedes Team ist gesamthaft für Qualität und Wirtschaftlichkeit zuständig. Sie müssen den Gesamtprozess steuern. Dazu gehören neben
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