Page 26 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 IM FOKUS
NDV 4/2022
den o.g. Themen das Personalmanagement von der Einstel- lung über die Fortbildung bis hin zur Bezahlung, Einstellung und Kündigung von Mitarbeitenden. Vermutlich ist in dieser Darstellung die Bezeichnung „Direktoren“ irreführend, weil es sich hier nicht um Dienstvorgesetzte mit Weisungsrecht han- delt (vgl. Abbildung in Wasel/Haas 2018, 599).
Als Rahmen gilt: Es dürfen nicht mehr als zwölf Mitglieder pro Team sein. Ihre Produktivität sollte bei 60  % liegen. Das Per- sonal besteht ausschließlich aus ausgebildeten Pflegefach- kräften. Alle Entscheidungen werden im Team getroffen. Es gibt keine feste Leitung, sondern nur verschiedene Rollen und Funktionen, die rotierend von den Gruppenmitgliedern wahr- genommen werden. Im Hintergrund arbeiten Coaches, die im Beratungsbedarf hinzugenommen werden können. Sie sind ebenfalls Pflegekräfte und haben eine Zusatzausbildung in Konfliktmanagement erworben. Sie haben lediglich beraten- de und supervidierende Funktion. Sie sind hierarchisch nicht übergeordnet und verdienen auch nicht mehr.
Im Hintergrund gibt es ein IT-System, das im Intranet die direk- te Kommunikation (über die Teams hinweg) mit Kollegen zum fachlichen Austausch eröffnet. Das Dokumentations- und Ab- rechnungssystem ist zentral organisiert. Im „Overhead“ arbei- ten ca. 50 Personen. Jos de Blok als Gründer arbeitet als Spre- cher der Organisation. Er greift in die teilautonomen Entschei- dungen nicht ein, kann aber beratend hinzugezogen werden. Die Gesamtorganisation kommt somit nach Eigenwahrneh- mung ohne Hierarchie, Macht, Kontrolle, Eingriffe etc. aus. Bu- urtzorg entspricht in vielen Merkmalen den Kriterien Selbstbe- stimmung, Ganzheitlichkeit und evolutiver Entwicklung und steht daher prototypisch für die 5. Generation evolutiver Orga- nisationen (Laloux, 2014; de Blok 2013).
Die Daten und Strukturdarstellung von Buurtzorg sprechen für mehr Autonomie der Mitarbeitenden, für mehr Flexibili- tät in der Arbeitszeit, für bessere Löhne mit der Möglichkeit, an dem Erfolg über Boni zu partizipieren, für mehr Ganzheit- lichkeit, fließende Übergange zwischen Privat- und Arbeitsle- ben und der Selbststeuerung bestimmter Unternehmensteile unter restriktiven Produktivitätsvorgaben (Wasel/Haas 2018, 2019; Kaloudis 2018a; KPMG 2015; Ernst & Young 2009). Selbst der Ausschluss verfasster (gesetzlich notwendiger) Partizipa- tionsmöglichkeiten der Mitarbeitervertretungen (Betriebsrat, Tarifpflicht etc.) scheint obsolet und rechtlich legitimiert, da Mitarbeitende als Entrepeneur ihres eigenen Wirkens agieren. Kurz (und gut?), es handelt sich in der Unternehmenssteue- rung um einen Prototyp, der der Humanisierung der Arbeits- welt als Gegenpol zur tayloristischen Unternehmensausrich- tung entspricht (Hawthorne 1929). Anstelle der klassisch am Kapital orientierten Allokation der Unternehmens- und Hand- lungslogik tritt die Selbststeuerung durch Mitarbeiter mit einer konsequenten Kundenorientierung.
4. Die Position der Kritiker: Buurtzorg als verdeckt neo-liberales Modell
Kritiker dieses Arbeitsmodells verwenden just dieselben Argu- mente wie die Befürworter. In dieser Argumentationslinie be- gründet sich ein wirkliches Paradoxon und ihr wahrhaft pa- radigmatischer Wandel der Arbeitsorganisation der Neuzeit. Peters und Sauer (2005) sprechen von einer Revolution. Die darin aufgeworfenen Thesen werden spätestens mit dem Ma- nifest von Eccles (1991) zur veränderten Arbeitswelt der Neu- zeit offenkundig. Die Soziologie beschäftigt sich bereits mit dem Ende der „goldenen Jahrzehnte“ mit dem Phänomen der Entgrenzung der Arbeit (1970er-Jahre bis zur Ölkrise 1973; Pe- ters/Sauer 2005). Daher ist das Phänomen nicht neu (Wagner 2005). Tatsächlich sollten insbesondere die Positionen der Kri- tiker aus dem gewerkschaftlichen Umfeld nicht überraschen. Erste Positionierungen hierzu finden sich schon zu Beginn der 2000er-Jahre (Wagner 2005). Was auch die Autoren überrasch- te, war die Bedeutung dieser Kritik für den Sozialsektor (Ver- di 2020). Vermutlich wirkte hier der „blinde Fleck“ so lange, da die Kritik sich an neo-liberalen, marktradikalen Modellen mit dem übergeordneten (kapitalistischen) Ziel entzündete. Weite Teile der Trägerlandschaft des Sozialsektors, insbesondere die der konfessionellen Träger, sahen sich gepuffert vor dieser Kri- tik, da sie dem Ziel verpflichtet sind, „Kirche zu verwirklichen“, und daher ihre Mission entfernt optimierter, kapitalorientier- ter Interessen „rein“ ideell (kirchlich) wahrnehmen. Passend hierzu waren die Rechtsformen häufig als Vereine, Stiftungen oder Körperschaften des öffentlichen Rechts strukturiert. Als Wesensmoment agierten sie daher „gemeinnützig“. Daher ist im Kern ihres Handelns Profitstreben ausgeschlossen (Abga- benordnung).
Auslöser der Kritik ist die Radikalisierung von Markt. Damit meinen Peters und Sauer (2005) die stringente Orientierung am Markt und die damit verbundene Ökonomisierung aller Le- bensbereiche. Alles Handeln eines Unternehmens richtet sich am Markt aus (Wasel 2012). Damit wird das Handeln im Un- ternehmen zur Ware. Produktion, Arbeitsleistung, Marketing, Controlling, Führungsstruktur und Kommunikations- und Lö- sungsfindung kennt nur die Allokation am Markt. Auch wenn dies nur als Fortschreibung kapitalistischer Interessen dient, gilt es doch den paradigmatischen Wandel zu beleuchten, um zu verstehen, woraus sich die Kritik an Buurtzorg speist.
Revolutionär in diesem Zusammenhang sind Steuerung, Un- ternehmenslogik und der Interessenskonflikt zwischen Kapi- tal und Arbeit (Peters/Sauer 2005; Wagner 2005). Der Auslöser ist die Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit. Die- ses Phänomen war zunächst in der freien Wirtschaft zu beob- achten (Wagner 2005). Es tritt aber mit der Tertiarisierung von Arbeit in stärkerem Maße im Dienstleistungssektor auf. Da-
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