Page 19 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022 IM FOKUS
Andreas Siemes:
Streichung des Begriffs „Rasse“ aus dem (Grund-)Gesetz – sinnvoll und ge- boten zur Vermeidung sprachlicher Diskriminierung?
Die öffentlich artikulierte Sensibilität auch für sprachliche Formen von Diskriminierung wächst: Immer mehr gesellschaftliche Debatten kreisen um solche sprachlichen Diskrimi- nierungen und um die Möglichkeiten, sie zu verhindern. Eine dieser Diskussionen betrifft die Frage, ob es sinnvoll und geboten ist, den Begriff der „Rasse“, der sich im Grundgesetz und in anderen gesetzlichen Regelungen findet, aus diesen Vorschriften zu streichen, um damit rassistischen Diskriminierungen entgegenzutreten. Der Beitrag versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben, und zwar als Anstoß für eine weiterführende Diskus- sion.
Die gesellschaftlichen Debatten um eine auch sprachliche Verpflichtung, Diskriminierungen wirksam entgegenzutreten, sind in vollem Gang. Ein Mosaikstein dieser Debatten ist die Diskussion darüber, ob eine Verwendung des Begriffs „Ras- se“ im Grundgesetz als der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und in anderen einfach-gesetzlichen Regelungen unterbleiben soll, weil dieser Begriff nicht nur wissenschaftlich unhaltbar ist, sondern seine Bildung und Verwendung rassis- tischem Gedankengut entspringen. In diesem Wissen haben im Jahr 2019 namhafte Wissenschaftler/innen in der „Jenaer Erklärung“ dargelegt, dass das Konzept der „Rasse“ wissen- schaftlich unhaltbar sowie das Ergebnis des Rassismus und nicht dessen Voraussetzung ist (vgl. Fischer et al. 2019). Die- se Erklärung war Bezugspunkt der Forderung nach einer Strei- chung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz, über die dann auch der Bundestag beraten hat, der sich aber zu der avi- sierten Streichung (noch?) nicht entschließen konnte. Natür- lich ist die Diskussion damit keineswegs beendet. Dies belegt etwa ein Interview mit dem Genetiker und Direktor am Max- Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Johannes Krause, der auch Mitautor der genannten Jenaer Erklärung ist. In die- sem Interview skizziert Johannes Krause noch einmal die wis-
senschaftliche Unhaltbarkeit einer Verwendung des Begriffs „Rasse“ in Bezug auf Menschen und bekräftigt die Forderung nach einer Streichung des Begriffs im Grundgesetz (vgl. Jöt- ten 2021).
Vor diesem Hintergrund ist es nur plausibel, dass die Schrift- leitung des NDV im Vorfeld des geplanten Abdrucks eines Beitrags des Verfassers dieser Zeilen anregte, die Verwen- dung des Begriffs „Rasse“ in dem Beitrag zu überdenken und nach Möglichkeit durch eine nicht rassistisch-diskriminieren- de Formulierung zu ersetzen. Der Beitrag handelt von der „An- wendbarkeit des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf Betreuungsverträge von Kindertageseinrichtungen“ (NDV
  Dr. Andreas Siemes
ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster
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