Page 17 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
P. 17

 NDV 4/2022
IM FOKUS
Dies ist dann der Fall, wenn sie ihre Fähigkeiten zur Teilhabe verbessern oder gar ihren Alltag selbstständig gestalten kön- nen sollen. Solche Ziele sind für die meisten Menschen mit ho- hem Unterstützungsbedarf kaum erreichbar. Befürchtet wird, dass sich keine messbaren Indikatoren für Entwicklungsfort- schritte darstellen lassen und dass Menschen mit hohem Un- terstützungsbedarf auf der Grundlage eines „sehr reduzier- ten Teilhabeverständnisses“ (Klauß 2018) Teilhaberechte vor- enthalten werden und sie Leistungen nicht erhalten (vgl. Bell 2019, 110).
Aus den Einschätzungen kann zweierlei abgeleitet werden. Erstens wäre eine Handreichung mit konkreten Hinweisen zur Beteiligung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf am Gesamtplanverfahren hilfreich. Zweitens sollte konkret dargelegt werden, was menschenrechtskonforme Teilhabe- ziele, die sich an den Möglichkeiten und Bedarfen der Betref- fenden ausrichten, bedeuten (vgl. Bell 2019).
4.2 Instrumente der Bedarfsermittlung nach § 118 SGB IX
§ 118 SGB IX normiert, dass die Ermittlung des individuellen Bedarfs als Grundlage für die Feststellung der zu gewähren- den Leistungen durch ein Instrument erfolgen soll, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) orientiert. Damit werden auch die für einen Menschen „spezifischen Barrieren und Un- terstützungsfaktoren“ in den Blick genommen (Hirschberg 2009). Teilhabe wird eben nicht nur dadurch erreicht, dass Menschen mit Behinderungen sich als Folge einer Förderung entwickeln, sondern dass sich die Umwelt ändert und dass es ausreichend Angebote und Unterstützung gibt.
Damit die Bedarfsermittlungsinstrumente der Bundesländer auch die Perspektiven von Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf berücksichtigen, ist es wichtig, dass den Beteilig- ten des Gesamtplanverfahrens im ersten Schritt bewusst wird, dass vielen Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf die Formulierung von Wünschen und Bedarfen bisher erschwert bzw. prinzipiell schwierig ist. Weiterhin sind Hinweise darauf notwendig, wie sie nach Teilhabezielen fragen können, die die Bedingungen von Menschen mit hohem Unterstützungsbe- darf berücksichtigen, für die eine individuelle selbstbestimm- te und autonome Lebensgestaltung kaum möglich bzw. er- schwert ist.
4.3 Leistungsvereinbarungen nach § 125 SGB IX
§ 125 SGB IX normiert die Inhalte der Leistungsvereinbarung (Abs. 1 Nr. 1) und der Vergütungsvereinbarung (Abs. 1 Nr. 2)
zwischen den Trägern der Eingliederungshilfe und den Leis- tungserbringern. Dazu gehören sowohl die personelle Aus- stattung als auch die Qualifikation des Personals (§ 125 Abs. 2 SGB IX). Fortbildungen, aber auch Supervision und regelmäßi- ge Fortbildungstage sind Elemente der Strukturqualität einer Leistung (Interview Rosenow, in: Grüber 2021b). Dies kann da- raus abgeleitet werden, dass nach den allgemeinen Grundsät- zen zum Vertragsrecht (§ 123 SGB IX Allgemeine Grundsätze) nicht nur Obergrenzen, sondern auch Untergrenzen, d.h. fach- liche Mindeststandards bestimmt werden. In diesem Sinne entsprechen die Förderung von Selbstbestimmung und Teil- habe und die Anwendung der UK dem „aktuellen state of the art“ (Rosenow, in: Fuchs et al. 2021, § 123, Rdnr. 56) von Heil- pädagogik, Heilerziehungspflege oder auch der Pflegewissen- schaft.
Folgende Punkte sind als Standard für Leistungsvereinbarun- gen zwischen den Leistungsträgern und den einzelnen Leis- tungserbringern zu empfehlen:
▶ die Anwendung der UK für Tages- und Förderstätten sowie gemeinschaftliche Wohnformen sowie
▶ dieImplementierungvonBeteiligungsgremieninTages- und Förderstätten.
Es ist dann notwendig, Fortbildungsmaßnahmen für das Per- sonal zu vereinbaren, mit denen gezielt die Qualität der Leis- tung verbessert wird (z.B. durch das Erlernen der UK). Schließ- lich wird unter anderem in § 124 Abs. 2 Satz 2 SGB IX gefordert, dass Mitarbeitende „über die Fähigkeit zur Kommunikation mit den Leistungsberechtigten in einer für den Leistungsbe- rechtigten wahrnehmbaren Form verfügen“, also in der Lage sind, die UK einzusetzen.
5. Personenzentrierung
Der vorliegende Artikel zeigt, dass das BTHG genügend An- satzpunkte dafür bietet, damit Menschen mit hohem Unter- stützungsbedarf das machen können, was andere Menschen auch tun: „ein so normales Leben wie möglich“ zu führen (Er- hardt/Grüber 2011, 37). Sie sollen und können die Möglich- keit haben, das zu tun, was andere auch tun: sich im Sozial- raum aufhalten, dort aktiv sein, Kontakte haben, sichtbar sein, Dienstleistungen im Sozialraum erbringen und Produkte für den Sozialraum herstellen. Sie sind Bürger/innen unter Mit- bürger/innen, sollen so wahrgenommen werden und aner- kannter Teil der Gesellschaft sein.
Ihre grundlegenden Bedarfe und Rechte unterscheiden sich nicht von denen anderer, sehr wohl aber die konkreten Bedar- fe und die Bedingungen für ihre Verwirklichung. Angesichts der Heterogenität der Bezugsgruppe ist die Personenzent-
159

















































































   15   16   17   18   19