Page 16 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 IM FOKUS
NDV 4/2022
3. Bedingungen für die Berücksichtigung der Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf
Angesichts der Tatsache, dass die Bedarfe prinzipiell ver- gleichbar sind, es aber bei der konkreten Ausgestaltung Unter- schiede geben kann, stellt sich die Frage, wie die Perspektiven der sehr heterogenen Gruppe der Menschen mit hohem Un- terstützungsbedarf bei der Umsetzung des BTHG berücksich- tigt werden können. Die Antwort kann in folgenden Kernsät- zen zusammengefasst werden: Es ist notwendig,
▶ dassMitarbeitendederLeistungsträgereinVerständnis für die Perspektiven von Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf entwickeln,
▶ dass die Prozesse konsequent nach ihren Bedarfen ausge- richtet sind und
▶ dass Teilhabeziele menschenrechtlich formuliert werden.
Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf qualifiziertes Personal benöti- gen und dass sie Zugang zu den Kommunikationsmöglichkei- ten haben, die sie benötigen.
3.1 Gesetzliche Normierung der Qualifikation des Personals
Wie oben ausgeführt, sind Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf in besonderem Maße auf qualifiziertes Perso- nal angewiesen. Nach § 124 Abs. 2 SGB IX hat die leistungsbe- rechtigte Person Anspruch auf die Qualifikation des Personals, die für die jeweilige Unterstützungsleistung fachlich erforder- lich ist (Interview Rosenow, in: Grüber 2021b). Auch aus § 76 SGB IX kann ein umfassender Anspruch auf qualifiziertes Per- sonal abgeleitet werden. Auf dieser Grundlage kann gefolgert werden, dass für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf auch bei der Inanspruchnahme von Assistenzleistungen zur „vollständige[n] und teilweise[n] Übernahme von Handlun- gen zur Alltagsbewältigung sowie [der] Begleitung der Leis- tungsberechtigten“ (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) fachlich qualifi- ziertes Personal zur Verfügung stehen muss. Das BTHG ermög- licht eine solche Interpretation, denn § 78 SGB IX erwähnt die Möglichkeit für die Finanzierung qualifizierten Personals zwar nicht, schließt sie aber auch nicht explizit aus.
3.2 Verständigung mit der Umwelt
Der Gesetzgeber hat die Finanzierung von Leistungen für die Anwendung der UK nicht explizit erwähnt. Da diese aber, wie ausgeführt, für viele Menschen mit hohem Unterstützungs-
bedarf eine entscheidende Voraussetzung für eine Verständi- gung mit der Umwelt sind, kann abgeleitet werden, dass Leis- tungen, die mit der Anwendung der UK in Verbindung stehen, zu den Leistungen gehören, die der Gesetzgeber in § 78 Abs. 1 Satz 3 SGB IX unter dem Begriff „Verständigung mit der Um- welt“ normiert hat.
4. Relevante Instrumente des SGB IX
Folgende drei Instrumente des SGB IX bieten Ansätze, um die Perspektiven von Menschen mit Behinderungen zu berück- sichtigen:
▶ das Gesamtplanverfahren nach § 117 SGB IX,
▶ Bedarfsermittlungsinstrumente nach § 118 SGB IX, ▶ Leistungsvereinbarungen nach § 125 SGB IX.
Im Folgenden wird ausgeführt, wie die Berücksichtigung kon- kret erfolgen kann.
4.1 Das Gesamtplanverfahren nach § 117 SGB IX
Der Anspruch des BTHG an Menschen mit Behinderungen: Sie sollen im Gesamtplanverfahren selbstbestimmt und selbstbe- wusst ihre Bedarfe, Wünsche und Ziele formulieren und an- schließend mit dem Kostenträger eine Vereinbarung über Teil- habeziele und entsprechende Maßnahmen treffen.
Die Erwartung an die aktive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen ist einerseits zu begrüßen, andererseits aber auch voraussetzungsvoll, denn zumindest implizit setzt dies „die Fähigkeiten aktiver Kundensouveränität“ (Boecker/We- ber 2018) bzw. eine „Regiekompetenz“ (vgl. Landschaftsver- band Rheinland 2020, 18) voraus. Es ist fraglich, inwieweit die genannten Voraussetzungen auf alle Menschen mit Behinde- rungen zutreffen. Menschen mit hohem Unterstützungsbe- darf jedenfalls erfüllen diese Anforderungen entweder zu ei- nem bestimmten Zeitpunkt oder dauerhaft nicht. Ihnen fehlen die Möglichkeiten zur Kommunikation, sie haben wenig Erfah- rung mit selbstbestimmten Entscheidungen oder sie kennen die Angebote des Sozialraums nicht, können also keine ent- sprechenden Wünsche äußern.
Eine nicht nur, aber auch für Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf entscheidende Frage ist, welche Teilhabeziele in der Vereinbarung mit dem Kostenträger formuliert werden. Im Sinne der Menschen mit Behinderungen ist Teilhabe, wenn sie mehr Möglichkeiten erhalten, Angebote wahrzunehmen und zu wählen. Ein Problem ergibt sich, insbesondere für Men- schen mit hohem Unterstützungsbedarf, aus Teilhabezielen, die Anforderungen an die Leistungsberechtigten enthalten.
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