Page 15 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
IM FOKUS
selbstbestimmt zu handeln und ihr Recht auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und Partizipation auszuüben.
Besonders entscheidend: Sie erhalten die notwendige Unter- stützung nicht, weil ihnen zu wenig zugetraut wird oder weil eine Fähigkeit als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dies zeigen wissenschaftliche Veröffentlichungen ebenso wie die Erfahrungen, die das Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) bei der Begleitung von Organisationen der Eingliede- rungshilfe und in Projekten gemacht hat.
1.4 Bedingungen für Selbstbestimmung und Teil- habe im Alltag
Diese Erfahrungen zeigen aber auch, dass es möglich ist, Bar- rieren zu überwinden (vgl. Grüber 2021a). Neben der erwähn- ten Haltung sind zwei Faktoren von besonderer Bedeutung: die Nutzung der Unterstützten Kommunikation und die Quali- fikation der Menschen, die die Unterstützung leisten.
1.4.1 Implementierung der Unterstützten Kommunika- tion
Menschen kommunizieren auf unterschiedliche Weise: mit den Augen, über die Mimik, mit dem Mund und mit den Hän- den. Kommunikation gilt als „Schlüssel zu einem selbstbe- stimmten Leben“ (vgl. Lang/Reich 2019; 75; Müller/Thäle 2019). Fehlende Kommunikation bzw. nicht adäquate Kom- munikationsmöglichkeiten erschweren oder verunmöglichen es Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, ihre Wünsche und Bedarfe mitzuteilen, in einen sozialen Austausch zu treten und wichtige Informationen zu erhalten.
Für Menschen, die nicht, kaum oder nicht in jeder Situation über Lautsprache verfügen, ist die Unterstützte Kommunika- tion (UK) so unverzichtbar wie die Leichte Sprache für Men- schen mit Lernschwierigkeiten. UK ist der Oberbegriff für lautsprachergänzende oder -ersetzende Kommunikations- formen und umfasst auch pädagogische und therapeutische Maßnahmen, um die kommunikativen Möglichkeiten dieser Menschen zu erweitern (Gesellschaft für Unterstützte Kom- munikation o.J.). Obwohl diese Kommunikationsmöglichkeit für sie essenziell ist, hat de facto nur ein Teil der Menschen, die UK benötigen, Zugang (Wahl 2018, 392).
1.4.2 Qualifikation der Beschäftigten
Damit Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf im Alltag Selbstbestimmung und Teilhabe erleben, ist es notwendig, dass die Menschen, die für sie arbeiten, besondere Fähigkei- ten haben und entsprechend qualifiziert sind (vgl. Bell 2019; Richter/Thäle 2018; Grüber 2021a). Sie müssen bereit und in der Lage sein, in Möglichkeiten und Alternativen zu denken und nach Lösungen suchen, die nicht auf der Hand liegen.
Festgefahrene, aber nicht mehr zeitgemäße Muster und Vor- urteile müssen kritisch hinterfragt und bewusst durchbrochen werden (vgl. GWW 2020). So kann es notwendig sein, Routi- nen im Tagesablauf zu verändern oder das Gruppensetting aufzulösen (vgl. Richter/Thäle 2018). Außerdem kann es wich- tig sein, sich Lösungen vorzustellen, die außerhalb bzw. unab- hängig von bestehenden Strukturen der Organisationen ste- hen. Beispielsweise können Freiwillige eine wichtige Stütze für die Verwirklichung der Teilhabe von Menschen mit hohem Un- terstützungsbedarf im Sozialraum sein.
2. Ziele des BTHG
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll die Eingliede- rungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwi- ckelt werden. Es soll „Menschen mit Behinderungen eine möglichst volle und wirksame Teilhabe in allen Bereichen für eine selbstbestimmte Lebensführung [...] ermöglichen“ (Um- setzungsbegleitung BTHG o.J.). Damit sind auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf gemeint. Das BTHG wurde aber nicht nur an der UN-BRK ausgerichtet, sondern es soll- te auch die „Ausgabendynamik“ begrenzt werden (BT-Drucks. 18/9522). So haben zwei gegensätzliche Ziele das Gesetzge- bungsverfahren geprägt (Rosenow, in: Fuchs et al. 2021, vor § 90, Rdnr. 5) und beeinflussen nun die Interpretation des BTHG. Der Verweis auf die Kostendynamik löst Befürchtungen aus, Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf würden die für sie notwendigen Unterstützungsleistungen nicht erhalten (Bell 2019).
Eine viel diskutierte und kritisierte Regelung des SGB IX verhin- dert die Beschäftigung von vielen Menschen mit hohem Un- terstützungsbedarf in einer Werkstatt, da diese an die Voraus- setzung eines „Mindestmaß[es] an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ geknüpft ist (§§ 57 Abs. 2 und 219 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX). Ihnen bleibt nur die Tätigkeit in einer Tagesförderstät- te, dem FuB-Bereich oder einer vergleichbaren Einrichtung. Wie die Bezeichnung „Tagesförderstätte“ deutlich macht, sol- len Klient/innen dort nicht arbeiten oder einer Beschäftigung nachgehen, sondern gefördert werden. Unterschiede werden auch bei den Mitwirkungsmöglichkeiten gemacht. Anders als in Werkstätten fehlt die rechtliche Grundlage, sodass es bisher nur sehr wenige Mitwirkungsgremien gibt.
Abgesehen von den erwähnten Paragrafen gibt es keine Re- gelung im SGB IX, die Menschen mit hohem Unterstützungs- bedarf explizit betrifft. Und so gilt § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX eben auch für sie, dass „die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft so- wie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebens- führung zu ermöglichen oder zu erleichtern“ ist.
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