Page 24 - NDV 08/2021
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 IM FOKUS NDV 8/2021 seiner theoretischen (wissenschaflichen) Überlegungen, seit er 1949 bis 1954 seinen Berufsweg als Heimerzieher bei der Jugendbehörde in Hamburg begonnen hatte (exemplarisch: Bäuerle/Markmann 1978).2 Aus diesen Erfahrungen hat sich auch eine andere „feste Mei- nung“ bei ihm entwickelt: Georg Kronawitter, der langjährige Oberbürgermeister von München, hat „als einfacher Bauern- sohn“ immer wieder die Frage gestellt, „Wie geht’s dem vierten Stand?“, also den Menschen, die schon im mittelalterlichen Ständesystem nicht dazu gehörten (zu den drei Ständen) – heute spricht man von Menschen in prekären Lebensverhält- nissen. Eben die „einfachen Menschen“, deren Kindern Wolf- gang Bäuerle früh in der Hamburger Heimerziehung begegnet ist. Deren vielfältige Not, immer wieder auch ihre strukturelle Chancenlosigkeit, ihn berührten und empörten. „Er glaubte an die Macht der Aufklärung ... Was auch immer zu verändern wäre, diese Gesellschaf lässt auch im Bereich der sozialen Arbeit Veränderungen nur durch (meist lang- wierige) Reformen zu. Sie wünscht keine Revolution.“ (From- mann/Haag 1983, IV). Er wollte, dass gerade ihnen geholfen wird – und auch noch in ihrem Leben! Und dann noch viel deutlicher in seinem Aufsatz „Progressive Konzepte und sozialpädagogische Praxis“ zu den Forderun- gen an die Sozialpädagogik, die unerfüllbar sind: Die Sozial- pädagogik kann nicht die Gesellschaf verändern, kann keinen neuen Menschen schafen, kann nicht die Chancenungleich- heit in der Gesellschaf verhindern oder beheben (Frommann/ Haag 1983, 54). „In dieser Welt sind die Menschen wie sie eben sind. Und diese Welt wird von diesen Menschen gemacht.“ (From- mann/Haag 1983, 54). Es geht nur in Reformschritten voran und es geht auch nur mit den Menschen zusammen, denen geholfen werden soll, man darf sie auch nicht überfordern, man muss sie da abholen, wo sie gerade stehen. Und immer wieder eindeutig gegen den da- maligen „quasi revolutionären Zeitgeist“: „Kritische Analysen, die sich damit begnügen, der Praxis zum wiederholten Male ihr Elend vor Augen zu halten, und progressive Konzepte, deren zu weit gesteckte Ziele die Praxis entmutigen, auch nur die nächsten Schritte zu tun, sind wenig hilfreich. Die Autoren dieser Konzepte merken nicht, dass ihre Art, einen Fortschritt erzwingen zu wollen, eine restaurative Wirkung hat.“ (From- mann/Haag 1983, 56). Wie modern das alles klingt: nach Koproduktion. Die Kinder- und Jugendlichen in der Heimerziehung sind nicht mehr „Zög- linge“ oder „Schutzbefohlene“, nur gemeinsam mit ihnen und in einem Aushandlungsprozess sind Änderungen erfolgreich umzusetzen. Überhaupt sollte dieser Aufsatz von 1971 in die Ausbildung der Sozialarbeiter/innen einbezogen werden, auch als Beleg dafür, dass wir auch in der Sozialen Arbeit mit unserem Wissen und Wollen nur auf den Schultern von Riesen stehen, deren Erfahrungen wir nutzen. 3. Die Berufsstationen Wolfgang Bäuerle ist dann nacheinander Erziehungsleiter bei der Blindenstudienanstalt Stuttgart, Leiter der Heilpädago- gischen Abteilung der Hamburger Jugendbehörde, danach behandelnder Psychologe einer Psychotherapeutischen Bera- tungs- und Behandlungsstelle. Er ging 1958 als wissenschaf- licher Assistent nach Rom, um anschließend von 1960 bis 1971 am Sozialpädagogischen Institut in Hamburg zu lehren (die ab 1970 Teil der neuen Fachhochschule wurde). Im Jahre 1971 wechselte er als Hauptabteilungsleiter für sozialpädagogische Grundsatzfragen zum Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt nach Bonn, gründete schließlich 1974 das Institut für Sozial- arbeit und Sozialpädagogik (ISS), dessen erster Leiter er bis 1976 gewesen ist, ehe er einen Ruf als Professor für Erziehungs- wissenschaf an die Universität Bielefeld annahm.3 4. Was fasziniert an diesem Lebensweg? Die häufigen Wechsel, die Vielfalt der unterschiedlichen Tätig- keiten, viel Praxis, die verschiedenen Managementaufgaben und die Lehre: Da kam fast idealtypisch Praxis und Theorie als Nährboden für anderes Denken und Handeln zusammen. Neben der Heimerziehung sind das die Themen „Beratung“ und „Elternbildung“ und „Fortbildung und Supervision“.4 2 3 4 Anne Frommann und Gerhard Haag haben 1983 „Wolfgang Bäuerle, Jugendhilfe und Sozialarbeit. Ausgewählte Vorträge und Schrifen“ im Aufrage der IGfH Deutschland herausgegeben, im Folgenden als Frommann/Haag 1983 zitiert. s gibt verschiedene Versuche, das Leben und den Berufsweg von Wolfgang Bäuerle zu skizzieren. Neben Wikipedia auch bei Kref/Mielenz 2017, 1161, der der Wahrheit wohl am nächsten kommt. Die Schrifen in Frommann/Haag 1983 sind diesen Schwerpunkten entsprechend gegliedert: „Zur Beratung und lternbildung“ (Kap. II), „Reform der Heimerziehung und der Kampf gegen die geschlossene Unterbringung“ (Kap. III), „Zur Fortbildung und Supervision“ (Kap. IV); dazu dann auch Bäuerle 1976, 12f. 408 


































































































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