Page 35 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
der-Kenneth Nagel anhand eines Pilotprojekts zu religiöser Diversität in Flüchtlingsunterkünften die fehlende Religions- kompetenz der Mitarbeiter/innen auf und konstatiert:
„In unserem Pilotprojekt hat sich immer wieder gezeigt, dass Mitarbeiter/innen mit einer eigenen religiösen Prä- gung eher zu einer religionssensiblen Arbeitsweise neig- ten als andere. Dies unterstreicht Salomons Argument, dass eine religiöse Motivation Sozialer Arbeit auch im hu- manitären Kontext zulässig und zuträglich ist. (...) Wo dies gelingt, kann die Religion von einer Triebkraft zu einer zentralen Gelingensbedingung der Sozialen Arbeit werden“ (Nagel 2022, 51).
Abb. 3: Cover der neuen Publikation (2022)
Wenig überraschend ist vor allem die „Nation“ als „sittliche Grundlage“ der Sozialen Arbeit aus heutiger Sicht hoch prob- lematisch. Aber auch hier ist die Auseinandersetzung mit dem „Gewordensein“ des Begriffs und seiner Wirkmächtigkeit in den heutigen Strukturen Sozialer Arbeit aufschlussreich. Safi- ye Yıldız zieht folgendes Fazit:
„Alice Salomons Vorstellungen einer Nation, Volkskultur und Volksgemeinschaft sind nationalistisch und ideo- logisch geprägt und blenden die mit dieser Konstruktion von Gemeinschaft verbundenen Ausschlüsse aus. Dieses Ein- und Ausschlussdenken reproduziert sich in der Sozia- len Arbeit bis heute. So wird die Heterogenität innerhalb der als ‚biodeutsch’ und der als migrantisch konstruier- ten Bevölkerungsgruppen, die strukturell unterschied- liche Behandlung unterschiedlicher geschlechtlicher, Klassen- und Schichtzugehörigkeiten, der geringe Zu-
gang marginalisierter Gruppen zu gesellschaftlichen Res- sourcen und damit deren dauerhafte Unterprivilegierung weiterhin nicht systematisch in der Sozialen Arbeit an- gegangen“ (Yıldız 2022, 71).
Sicherlich einfacher ist, einen Bezug zu Humanismus und So- lidarität als Motive Sozialer Arbeit herzustellen. Aber auch die Autor/innen dieser Kapitel arbeiten problematische Ausschlie- ßungsprozesse heraus, die im Namen dieser Werte in der Sozi- alen Arbeit stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Auf dieser Grundlage plädieren sie für neue Ansätze und kön- nen damit oft, aber nicht immer, an Alice Salomons Ideen an- knüpfen.
3. Schlussbemerkung
Die Bedeutung, die Alice Salomons Vortrag im Deutschen Ver- ein vor hundert Jahren zukam, zeigt ihn als einen Schlüssel- text für ein modernes Verständnis von Wohlfahrtspflege. Denn um ein solches rangen die Vertreter/innen öffentlicher und privater Fürsorge vor dem Hintergrund der Kriegsfolgen und der finanziellen Belastungen öffentlicher Kassen.
Dass der Vortrag auch als Schlüsseltext für die heutige Sozia- le Arbeit noch taugt, zeigt seine Anschlussfähigkeit an aktuel- le Diskurse, um die in diesem Band gerungen wird. Ein solcher Anschluss gelingt nicht immer, manche Konzepte müssen auch als historisch überholt verworfen werden. Aber selbst die Autor/innen der kritischen Replik kommen zu dem Fazit:
„Wir, die Autor/innen dieses Textes, wollen das Werk Alice Salomons kritisch betrachten, sie weder auf ein Podest heben noch ad acta legen. So finden wir bei Salomon bei- spielsweise eine Idealisierung der Arbeiter/innenklasse und eine fehlende Sensibilität für die systemische Be- dingtheit sozialer Probleme. Dennoch leistete sie einen unverkennbaren Beitrag zur Etablierung der Sozialen Arbeit und zu emanzipatorischen Prozessen. Wir suchen hier die Auseinandersetzung und den Widerspruch. Sozia- le Arbeit kann nur Bestand haben, wenn sie die Struktu- ren, denen sie angehört, sowie ihre Geschichte und Theo- retiker/innen einer stetigen Reflexion unterzieht“ (Gleridou et al. 2022, 108 f.).
Der Deutsche Verein hat das Alice Salomon Archiv gern bei diesem anspruchsvollen Projekt unterstützt und veröffentlicht die Textsammlung nun in seinem Verlag. Im Mai 2022 – rund 100 Jahre nach Alice Salomons Auftritt auf dem 37. Fürsorge- tag – wird sie auf dem 82. Deutschen Fürsorgetag in Essen prä- sentiert. Vielleicht finden auch die dort anwesenden Akteurin- nen und Akteure Anknüpfungspunkte für aktuelle Diskussio- nen um krisenhafte Entwicklungen und Finanznot.
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