Page 34 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
NDV 4/2022
Bei der Aussprache im Anschluss an die Referate sprach sich Polligkeit dagegen aus, dass die „Frage der finanziellen Durch- führbarkeit“ als Ausgangspunkt für die „Zielsetzung in der Wohlfahrtspflege“ gewählt werden müsse (Bericht über die Verhandlungen 1922, 61). Er plädierte für eine neue Zielset- zung der Wohlfahrtspflege, „für die neben sozialen und wirt- schaftlichen Erwägungen vor allen Dingen auch ethische Mo- mente richtungsgebend sein müssen“, und schloss an:
„In diesem Sinne war der Vortrag von Dr. Alice Salomon ein Auftakt zu den folgenden Beratungen, indem er uns nachwies, daß gewisse sittliche Kräfte imstande sein wer- den, die Finanznot zu überwinden oder zum mindesten die Wohlfahrtspflege trotz dieser Finanznot wirksam zu machen“ (ebd.).
In der „Sozialen Praxis“ berichtete Polligkeit, Salomons Vor- trag habe „nachhaltigen Eindruck auf die Versammlung ge- macht“ (Polligkeit 1922, 75). Laut Krug von Nidda hatte er so- gar die Gründung einer Kommission zur Folge:
„Die Gedankengänge Alice Salomons veranlaßten den Vorstand des Deutschen Vereins in den folgenden Jahren, das Gemeinsame in Ursprung und Zielsetzung aller Wohl- fahrtspflege durch eine Kommission weiter untersuchen zu lassen“ (Krug von Nidda 1958, 143).
Bisher ließen sich keine weiteren Hinweise auf diese Kommis- sion auffinden. Der Vortragstext wurde nicht nur im Bericht über den 37. DFT, sondern auch separat als Broschüre veröf- fentlicht. Später fand er Eingang in einen vom DV herausgege- benen Band über Leben und Werk Alice Salomons (Muthesius 1958) sowie in die Edition ihrer gesammelten Schriften durch Adriane Feustel (Salomon 2004).
2. Die Aktualität von Alice Salomons Schlüsseltext
Den Mitarbeiterinnen des Alice Salomon Archivs ist es zu ver- danken, dass der Text nun noch einmal publiziert und durch eine historische Kontextualisierung und ein umfangreiches Glossar erläutert wird. Darüber hinaus haben sie Autor/in- nen aus einem breiten fachlichen Spektrum für eine kritische Kommentierung des Textes gewonnen. In jeweils zwei kurzen Beträgen wird einer von Salomons Schlüsselbegriffen – Religi- on, Nation, Humanismus und Solidarität – erörtert und dessen Anschlussfähigkeit an aktuelle Diskurse der Sozialen Arbeit ge- prüft. Abschließend unterzieht eine Gruppe Studierender des Masterstudiengangs „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“ den titelgebenden Anspruch Salomons „über alle Parteiungen weg“ einer kritischen Replik.
In dem Band geht es auch darum, das historische Geworden- sein der Begriffe und die Rolle der Sozialen Arbeit dabei nach- zuzeichnen. Die Herausgeber/innen beschreiben ihr Anliegen so:
„Wenn wir etwa den Begriff der ‚Nation’ in seiner zeitlich und örtlich spezifischen Verwendung nachzeichnen und mit seiner Position in aktuellen Diskursen vergleichen, offenbaren sich uns nicht allein die Funktion und Wirk- macht, sondern auch die In/Stabilität professioneller und gesellschaftlicher Leitbilder. Ebenjenes Gewordensein von Schlüsselbegriffen anhand ihrer Verwendung in der Sozialen Arbeit nachzuvollziehen öffnet – so unsere Hoff- nung – den Blick dafür, welche Rolle die Soziale Arbeit selbst historisch bei deren De/Konstruktion einnimmt“ (Lau/Mehl 2022, 11).
Abb. 2: Salomons Vortrag als Sonderveröffentlichung (1922)
Die Autorinnen und Autoren betrachten Alice Salomons The- sen jeweils im Lichte ihrer eigenen aktuellen Arbeit. Sie kons- tatieren Defizite in Salomons Analyse – insbesondere im Hin- blick auf strukturelle Ursachen sozialer Probleme –, finden aber vielfach auch anschlussfähige Aspekte. So zeigt Alexan-
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