Page 33 - Nachrichtendienst Nr. 4/2022
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 NDV 4/2022
AUS DEM DEUTSCHEN VEREIN
den Folgen der Finanznot auf die Wohlfahrtspflege be- schäftigt, über die sittlichen Grundlagen und Ziele der Wohlfahrtspflege zu sprechen, überlegte ich mir, welche Motive unser Vorstand für die Wahl dieses Themas wohl haben könnte. Ich habe darauf zwei mögliche Deutungen gefunden. Entweder hatte er den Wunsch, die Mitglieder des Vereins, die nichts von Finanzfragen verstehen, durch ein Thema aus einem völlig andersartigen Gebiet zu inte- ressieren; oder er muß der Überzeugung sein, daß ge- wisse sittliche Kräfte imstande sind, die Finanznot zu überwinden oder jedenfalls die Wohlfahrtspflege trotz dieser Finanznot wirksam zu machen. Ich möchte diese letzte Auffassung für meine Darlegungen wählen“ (Salo- mon 1922/2022, 32).
Abb. 1: Alice Salomon (1872–1948)
In ihrem Vortrag identifiziert Alice Salomon vier ethische Moti- ve als Grundlagen der Wohlfahrtspflege: Religion, Nation, Hu- manismus und Solidarität. Sie erläutert deren philosophisch- weltanschaulichen Traditionen und arbeitet ihre Gemeinsam- keiten und Unterschiede heraus. Dann kommt sie zu ihrem Anliegen: Die jeweilige Motivation sei eine persönliche Frage der Einzelnen, aber trotz aller Unterschiede gebe es ein ge- meinsames Anliegen:
„Was ist uns gemeinsam an sittlichen Grundlagen? Man- chem wird die Antwort, die man auf diese Frage geben kann, nicht tragfähig erscheinen. Mich dünken die ge- meinsamen Grundlagen stark genug zu gemeinsamem
Wirken mit gegenseitigem Vertrauen. Gemeinsam ist uns allen die soziale Idee“ (ebd., 42).
Unter dem Eindruck des Weltkriegs und der Verelendung in vielen Gebieten der Welt formuliert sie:
„Langsam begreift die Menschheit, daß die Welt aus aller Not nicht zu erlösen ist, so lange sie sich den Gedanken der Solidarität, den Glauben an das gemeinsame Schick- sal nicht zu eigen macht; so lange die Starken die Lasten der Schwachen nicht mittragen wollen. Denn niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind“ (ebd., 43).
Daraus folgt für Salomon das Plädoyer für eine Zusammenar- beit über politische und ideologische Grenzen hinweg:
„Diese Gedanken sind in irgendeiner Ausprägung uns allen zu eigen: daß wir verantwortlich sind für alle Not, für alle Sittenlosigkeit, für alles Unrecht und alle Unter- drückung. Und das sollte uns zusammenführen über alle Parteiungen weg zu gemeinsamer Arbeit für ein ge- meinsames sittliches Ziel“ (ebd., 43).
Alice Salomons Vortrag stand am Beginn der Versammlung und bildete damit gewissermaßen einen Rahmen für die Ver- handlungen, die folgen sollten. Sie selbst formulierte es so:
„Bevor wir uns morgen dem Dunkel der Not und der finan- ziellen Sorgen zuwenden, wollen wir deshalb eintauchen in den Optimismus, der jedem erwächst, der sich auf die Quellen der Kraft besinnt, die, unabhängig von allem äu- ßeren Geschehen, von Niederlage und Bedrückung, dem Frieden von Versailles und dem Valutaelend, vollkommen zeitlos den Menschen gegeben sind. Dadurch wollen wir uns den Glauben für die Möglichkeit, für Erfolg und Sinn unserer Arbeit stärken“ (ebd., 32).
Es steht zu vermuten, dass die leitenden Akteure des DV, allen voran Wilhelm Polligkeit, Salomons Vortrag als programma- tisch an den Beginn gesetzt hatten, um die weitere Perspek- tive der Wohlfahrtspflege aufzuzeigen. Schließlich waren sie angetreten, unter den neuen Bedingungen der Weimarer Re- publik eine umfassende Modernisierung des Sozialstaats vo- ranzutreiben. Diese drohte nun zu scheitern:
„Die in den letzten Jahren scharf einsetzende Finanznot hat eine rückläufige Entwicklung ausgelöst. Es besteht nun die Gefahr, daß unter ihrer Wirkung die Ziele der Wohlfahrtspflege zu sehr eingeschränkt und dadurch die Lebensbedingungen unseres Volkes beeinträchtigt wer- den“ (Lohse/Polligkeit 1921, VII).
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